Story
16247 Wie erging es eigentlich Coachee…?

Über das Coaching-Angebot

Das Hauptziel ist es, Athleten in der Übergangsperiode von der sportlichen zur nachsportlichen Karriere aktiv zu unterstützen und ihnen eine ressourcenorientierte Perspektive für ihr Leben nach dem Leistungssport zu vermitteln. Beim mehrtägigen „Trainingslager fürs Leben 2023“ in der Sportschule Hennef lernen die Teilnehmer Strategien, wie sie ihren neuen Alltag beruflich und privat strukturieren können. Das Selbstbild verändert sich. Neue Glaubensätze ersetzen alte. Es geht darum, den Selbstwert über den sportlichen Erfolg hinaus zu erkennen und sich mit Menschen in ähnlichen Situationen auszutauschen. So urteilen die Coaching-Teilnehmer 2023: „Absolut unbezahlbar“ – „Eine super Truppe“ – „Eine riesige Hilfe für alles, was nach der Sportlerkarriere kommt“.

Hier geht’s zum Coaching-Film 2023.

Übrigens: 2024 setzt die Sportstiftung ihr kostenlosen Coaching-Angebot fort.

Leon Schandl

…hat seinen Abschluss versilbert. Der Deutsche Ruderverband nominierte ihn überraschend für die FISU World University Games in Chengdu im Sommer. Leon hatte seine sportlichen Ambitionen bereits begraben, sagt aber trotzdem zu. Neben ihm nehmen langjährige Weggefährten im Achter Platz. „Ohne den Druck vergangener Jahre war ich unverkrampft“, sagt Leon. Die Unternehmung bekommt Klassenfahrtcharakter. „Jeder im Team wusste aber, wann er den Schalter umlegen muss.“ Die Mannschaft harmoniert und gewinnt Silber.

Danach ist wirklich Schluss. Das Studium vereinnahmt Leon. „Es ist ein neues Gefühl, so schnell voranzukommen“, staunt er. Nebenbei arbeitet er als Werkstudent im Baumanagement. Im Sommer 2024 will er den Masterstudiengang beginnen. Leon hat Orientierung nach der Sportkarriere gefunden. Gerudert wird nur noch, um den Körper abzutrainieren. Statt getakteter Nährstoffaufnahme wird jetzt mit Genuss gegessen.

Leon Schandl: ehemaliger Ruderer, Jg. 1998, aus Dortmund

Maria Tietze

…hat sich in unbekannte Gewässer gewagt. Im Sommer begab sich die ehemalige Para Sprinterin auf Expeditionen in die Arktis und nach Alaska. Sie arbeitete als Englisch Dolmetscherin für Crew und Touristen. „Manchmal war es anstrengender als der Leistungssport“, scherzt sie. Es ist ihr erster Job ohne Spikes und Shorts – und direkt erfolgreich.

Folgeaufträge sind bereits ausgehandelt. Der Para Sport bleibt ihr aber eine Herzenssache. Es mangelt an Angeboten, die Einsteigern Spaß an der Bewegung vermitteln, findet Maria und wird initiativ. In ihrem Heimatort Overath sportelt sie regelmäßig mit einer kleinen Gruppe Jugendlicher mit Behinderung. In Düsseldorf unterstützt sie ein ähnliches Bewegungsprojekt für Kinder. Sie hat Pläne, die Trainerlizenz zu erwerben. „Wer Sport macht, ist oft selbstbewusster. Meine Behinderung gehört zu mir, definiert mich aber nicht als Mensch“, sagt sie. Durch das „Trainingslager fürs Leben“ hat Maria Mut gefasst, ihre Überzeugungen in Taten umzusetzen. „Das Coaching hat vieles in mir geordnet. Es fällt mir dadurch leichter, meine Gedanken mit anderen zu teilen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so emotional und intensiv wird. Wir gaben uns das Gefühl, Dinge sagen zu können, die man normalerweise für sich behält.“

Maria hat sich auch vorgenommen, einen Roman zu schreiben. Keine Autobiographie, aber beruhend auf wahren Begebenheiten: ihren Motorradunfall, ihre Odyssee in der Reha und ihr Leben als Leistungssportlerin. Sie glaubt, nun die notwendige emotionale Distanz gefunden zu haben.

Maria Tietze: ehemalige Leichtathletin, Jg. 1989, aus Leverkusen

Benjamin Lenatz

…engagiert sich für die Unterbringung von Obdachlosen und Geflüchteten. Im Mai ist er auf seine Position beim Sozialamt der Stadt Bergisch Gladbach zurückgekehrt. Förderer und Sponsoren hatten ihm in den vergangenen neun Jahren geholfen, seine Arbeitszeit schrittweise zu reduzieren, wohingegen sein Trainingsumfang zusehends wuchs. „Als Leistungssportler bist du auf diese Mittel angewiesen“, sagt der frühere Para Triathlet.

Als sich sein Karriereende wegen einer Leukämieerkrankung abzeichnete, suchte Benjamin verkrampft nach dem optimalen Übergangsszenario, um seine Unterstützer nicht zu überrumpeln. „Mit der Haltung habe ich mir selbst Steine in den Weg gelegt.“ Das Coaching mit der kleinen Alumni-Gruppe löste die Blockade. „Ich habe danach mehr auf mein Herz gehört“, sagt Benjamin. Zweifel wich Zuversicht. Im Job bekommt er Lob. Man schätzt seine Fähigkeit, alle an einem Strang ziehen zu lassen. Ihm wird eine Führungsposition angeboten, aber er verzichtet. Trotzdem ein Boost fürs Selbstvertrauen.

Benjamin will einen Neuanfang schaffen, der auf Vergangenem aufbaut. Er investiert viel Energie in die Konzeption einer Tätigkeit als Speaker. Und Benjamin bleibt sportlich. Seit Dezember wirft er wieder Körbe in der Rollstuhlbasketball Bundesliga. Die Skywheelers aus Frankfurt hatten eifrig um ein Comeback nach 14 Jahren geworben. Seine neue Rolle als Ergänzungsspieler und Mentor für Talente erfüllt Benjamin: „Körper und Kopf tut das sehr gut.“

Benjamin Lenatz: ehemaliger Para-Triathlet, Jg. 1984, aus Hückeswagen

Mareike Arndt

…räumt professionell auf. Die frühere Siebenkämpferin hat sich als zertifizierter Ordnungscoach selbstständig gemacht. Nun unterstützt sie zum Beispiel Familien dabei, die Haushaltführung zu strukturieren und nachhaltiger zu konsumieren. Beim Coaching in der Sportschule Hennef wurde ihr klar, dass sie eigentlich nur Ausreden daran hinderten, diesen Schritt zu gehen: „Man weiß zwar, was man machen möchte, aber der letzte Kick fehlt. Ich glaube, ich wäre alleine nicht weitergekommen.“ Die größte Herausforderung sieht sie darin, von ihrer antrainierten Erwartungshaltung abzukommen. „Nicht alles, was ich tue, muss Höchstleistung sein“, predige sie sich oft. Dass im Job manchmal das Feedback ausbleibt, sei auch gewöhnungsbedürftig.

Der Leichtathletik ist Mareike treu geblieben. Sie besitzt jetzt die B-Trainerlizenz und trainiert beim TSV Bayer Leverkusen paralympische Athletinnen und Athleten. Von ihren Erfahrungen sollen Jüngere profitieren. Insbesondere legt Mareike Wert auf mentale Gesundheit: „Bei mir hatte sich vieles angestaut, was ich erst am Karriereende aufarbeiten konnte.“ Deshalb rät sie, auch mit Gefühlen aufzuräumen, anstatt sie abzuhaken und einfach weiterzumachen.

Mareike Arndt: ehemalige Siebenkämpferin, Jg. 1992, aus Leverkusen

Katharina Müller

…hat sich in Südtirol niedergelassen und unterrichtet Eiskunstlauf an der Young Goose Academy. Die international ausgerichtete Schule nahe Bozen bietet ihr die Chance, parallel die Nachwuchstalente des Eissport Verbandes NRW zu betreuen. Katharina ist Ansprechpartnerin bei Förderangelegenheiten. Um Wettkämpfe zu organisieren, kommt sie regelmäßig ins heimische Westfalen.

Dass sie nach dem Ende ihrer Leistungssportkarriere beruflich in demselben Metier geblieben ist, war eine Gefühlsentscheidung, betont sie. Denn ihre rational durchdachten Pläne hätten sich in der Vergangenheit oft zerschlagen. „Beim Coaching haben wir gelernt, in uns hineinzuhören. Alle hatten Angst vor einer Identitätskrise.“ Das ständige Reisen und Fernsein von der Familie hatte Katharina früher zugesetzt. In neuer Rolle fühlt sie sich jedoch „emotional stabil und gereift“, bereit, als Trainerin Verantwortung für andere zu übernehmen. „Das gehört doch zum Erwachsenwerden“, sagt sie. „Mich reizt die Aussicht, Athleten zu den Olympischen Winterspielen in Mailand Cortina d‘Ampezzo zu begleiten. Ich lerne viel von erfahrenen Trainern und versuche zu erfassen, was sich in den Köpfen meiner Athleten abspielt, um sie auch auf psychologischer Ebene optimal zu coachen. Ich knüpfe unmittelbar an meine Erfahrungen beim Trainingslager fürs Leben an.“ Katharinas Vergangenheit und Zukunft liegen auf Eis. Für ihr Studium soll dies nicht mehr gelten. Sie möchte den Abschluss in Sportmanagement per Fernstudium nachholen, bevor die Familienplanung konkret wird. Letztere wird sicherlich wieder eine Gefühlsentscheidung.

Katharina Müller: ehemalige Eiskunstläuferin, Jg. 1995, aus Gütersloh

Jenny Karolius

…beansprucht selbst beim Discofox die Führungsrolle. Bei einer Feier beschwerte sich ihr Tanzpartner. Zu Recht, gesteht Jenny. Es ist das bekannte Problem: Es fällt ihr schwer, Verantwortung und Aufgaben abzugeben. Auch trifft sie nicht gern Entscheidungen. Die Angst, falsch zu entscheiden, oder auch mal einfach Nein zu sagen, ist groß. Deshalb schiebt Jenny ständig etwas auf. Folglich arbeitet „Flummi“ chronisch über ihrer Belastungsgrenze, immer mit der gleichen Leidenschaft wie früher bei der Handball-Nationalmannschaft, immer da, wo gerade der Ball ist. Ein Hörsturz im Sommerurlaub war ein letztes Alarmsignal, etwas an ihrer Situation zu verändern.

Jenny ist in einer Ergotherapiepraxis und als Nachwuchstrainerin bei ihrem Stammverein TSV Bayer Leverkusen beschäftigt. Ihr Dilemma: „Ich liebe beide Jobs“, trotz mancher Querelen. Nach Saisonende geht es zum HSV Solingen-Gräfrath. „Ein Knoten im Kopf ist damit gelöst“, freut sie sich. „Ich lerne gerade, mir bei meinen Entscheidungen mehr zu vertrauen.“ Die Coachingtage mit der Sportstiftung waren ein „Tritt in den Hintern“. Sie erklärt: „In meinem Werteprofil steht Familie eigentlich an erster Stelle.“ Gut möglich, dass es sie im übernächsten Sommer beruflich daher weiter weg verschlägt. Ihre Eltern wohnen in Thüringen. Adieu, Rheinland, nach 10 Jahren? „Ich freunde mich mit dem Gedanken an,“ sagt sie lächelnd.

Jenny Karolius, ehemalige Handballspielerin, Jg. 1986, aus Leverkusen

Miryam Roper-Yearwood

…graute es vor Meditation. Die anfangs unliebsame Übung beim „Trainingslager fürs Leben“ stieß schließlich jedoch einen Prozess der Selbstreflexion an. Und siehe da: „Mittlerweile meditiere ich ziemlich viel“, sagt sie. „Jeden Morgen suche ich den Dialog mit mir selbst, meine innere Mitte.“ Das hilft ihr, die Athletin Miryam loszulassen und sich mit ihrer neuen Identität anzufreunden.

Miryam arbeitet als Athletiktrainerin mit Nachwuchskadern des Judoverbandes und sie hat eine Ausbildung zum Atemcoach absolviert. Gemeinsam mit Judoka Martyna Trajdos führt sie im Sommer ihr erstes Performance Camp durch, um ihr Know-how und ihre Erfahrungen aus ihren nicht immer gradlinig verlaufenden Sportkarrieren mit der nächsten Generation zu teilen. Miryam erklärt: „Leistung kann nur nachhaltig erreicht werden, wenn man die Athletinnen und Athleten und ihre Bedürfnisse ganzheitlich und individuell betrachtet.“ Es sind vermeintliche Kleinigkeiten, wie gute Schlafqualität oder handyfreie Zeit, auf die sie bei der Ausbildung anderer Trainerinnen und Trainer Wert legt. „Man muss es allerdings auch vorleben,“ sagt sie. „Ich bin da perfektionistisch und wie der Kölner Dom: niemals fertig.“

Miryam Roper-Yearwood, ehemalige Judoka, Jg. 1982, aus Köln

Categories: Story Schlagwörter: , | Comments 16655 Vom Sehen und Gesehen-Werden

Marc Lembeck hat seiner ehemaligen Lehrerin vermutlich sehr oft gedankt. Er besuchte eine Förderschule, wo Frau Zeller seine Sportlichkeit auffiel. Sie machte ihn auf das Leichtathletiktraining beim TSV Bayer 04 Leverkusen aufmerksam. Marc ging hin, wurde gefördert und erreichte 2008 seine erste Paralympics-Teilnahme im Sprint über 200 und 400 Meter. 16 Jahre später ist er im Rudern Weltspitze. Wenn er im Sommer Postkarten aus Paris verschickt, darf eine Adressatin nicht fehlen.

Bei den Paralympics 2024 wird Marc noch einmal demonstrieren, wohin der Weg vom Talent zum gestandenen Athleten führen kann. Dem PR3 Mixed Vierer gelang bei der WM im vergangenen Jahr als erstem Boot des Deutschen Ruderverbands die Qualifikation für Paris. Inmitten der Metropole wird Marc so sichtbar sein, wie ein paralympischer Ruderer jemals sein kann.

Trotz Sehbehinderung beeinflussen, was andere sehen

Marc Lembeck ist Talentscout für Para Sport in NRW.

Um das Gesehen-Werden dreht es sich auch in Marcs anderer Rolle. Im Oktober übernahm er die Aufgabe, seine potenziellen Nachfolgerinnen und Nachfolger aufzuspüren. Als Talentscout für den Para Sport in Nordrhein-Westfalen bekleidet er eine Position, die 2019 beim Behinderten und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen e. V. (BRSNW) in Pionierarbeit geschaffen wurde, und seitdem weitgehend von der Sportstiftung NRW ermöglicht wird.

Marc hat über drei Jahrzehnte gelernt, mit seiner Behinderung zu leben, einer degenerativen Erkrankung des Sehnervs. Fünf Prozent Sehstärke hinderten den gebürtigen Solinger nicht daran, Edelmetall bei Welt- und Europameisterschaften zu gewinnen. Marc kann den Verlust seiner Sehkraft nicht beeinflussen. Dafür kann er beeinflussen, was andere sehen. Er hat sich vorgenommen, mehr Sichtbarkeit für den Para Sport und dessen Angebote für Einsteiger zu erzeugen. Daran hapert es noch im Para Sportland NRW, meint er. Im einwohnerreichsten Bundesland verbergen sich mehr Talente, ist Marc überzeugt.

Viele Wege führen nach Rom

Die von Marcs Vorgängerinnen initiierten Schnuppertage, die Para Sport Tour, wird fortgeführt, erklärt er. Es handelt sich um bis zu drei Wochenenden, an denen Menschen jeden Alters mehrere paralympische Sportarten an einem Ort ausprobieren können. Entscheidende Unterstützung verspricht sich Marc dabei von gestandenen Para Athleten, die als Gesichter der Tour einen Wiedererkennungswert schaffen und als Vorbilder wirken sollen. „Ein kleiner Facelift für die Tour“, sagt Marc. Er möchte das Angebot außerdem ambitionierter auf Leistungssport ausrichten, passend zu den mitwirkenden Athletinnen und Athleten. Wer bei einem Schnuppertag die Lust an der Bewegung entdeckt hat, es aber langsam angehen möchte, wird natürlich trotzdem vernetzt:

„Ich bin die Schnittstelle zu unserem Breitensportreferenten“, erklärt Marc und schiebt hinterher: „Ich versuche, besorgten Eltern zu vermitteln, dass ein Leistungssportler bewusst an seine körperlichen Grenzen geht.“

„Viele Kaderathleten sind mit ihrem Sport zufällig in Kontakt gekommen, meist durch Familie und Freunde“, weiß Marc aus einer Studie des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft (Quantitative Befragung von DBS Bundeskaderathleten 2023), die ihn an seine eigene Vita erinnert. „Das eine Best-Practice Beispiel der Talentfindung gibt es nicht“, sagt Marc. „Wir versuchen deshalb immer wieder neue Wege in den Para Sport zu öffnen.“ Größere Präsenz in Social Media ist eine Möglichkeit. Marcs Kumpel, der Weitspringer Markus Rehm, ist einer der bekanntesten deutschen Para Athleten. Als „thebladejumper“ hat er 12.000 Follower bei Instagram.

Inklusion in Vereinen leben

Wurde ein Talent identifiziert, braucht es Trainingsmöglichkeiten im Verein, möglichst nah am Wohnort. „Wir können es uns nicht erlauben, Talente direkt wieder zu verlieren, weil sie zwei Stunden zum Training fahren müssen“, sagt Marc. Er glaubt, dass die Vereinslandschaft in NRW das Potenzial hat, sich für Para Athletinnen und Athleten mehr zu öffnen.

Bevor Marc Talentscout wurde, arbeitete der gelernte Bürokaufmann als Event-Inklusionsmanager für den Deutschen Ruderverband, davor viele Jahre beim Deutschen Behindertensportverband. „In vielen Fällen ist es möglich, Inklusion zu praktizieren. Klar, es gibt Grenzen. Aber in der Regel ist es der einfachste Weg, einen Para Sportler in ein bestehendes System zu integrieren. Das spart Ressourcen. Es sind dieselben Trainingszeiten und dasselbe Personal“, erklärt er. „Jeder weiß, dass er sich in einem Verein verantwortungsvoll gegenüber sich selbst und anderen verhalten muss. Das gilt gleichermaßen für Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Wir müssen Barrieren im Kopf abbauen und die Angst vor dem Unbekannten nehmen.“ Hundert Prozent scharfsichtig.

Paralympisches Zentrum – Förderungen deutlich erhöht

Das Paralympische Zentrum bezeichnet ein Netzwerk aus Unterstützern des paralympischen Sports in NRW. Die Sportstiftung trägt in enger Partnerschaft mit dem Behinderten- und Rehabilitationssportverband NRW (BRSNW) dazu bei, erfolgreiche Nachwuchsarbeit zu gestalten und den Athletinnen und Athleten herausragende Rahmenbedingungen für Training, Studium und Berufsausbildung anbieten zu können.

Neben der unmittelbaren Athletenförderung unterstützt die Stiftung auch Personalstellen im paralympischen und deaflympischen Sport, darunter der Talentscout, Trainer, Stützpunktleiter sowie die Stelle des Klassifizierers. Dafür wurden im Jahr 2023 Mittel in Höhe von rund 400.000 Euro bereitgestellt. Im April 2024 hat das Kuratorium der Sportstiftung beschlossen, die Förderung für Leistungssportpersonal sowie für Wettkampf- und Trainingsmaßnahmen im paralympischen Sport auf jährlich 650.000 Euro zu erhöhen.

Ansprechpartner
Marc Lembeck
Marc Lembeck

Talentscout beim BRSNW
02037174170
0160 97264102
lembeck@brsnw.de

Vorreiter im Parasport Categories: Story Schlagwörter: , , | Comments 16106 Die warme Welle

„Mache ich wirklich Leistungssport?“

Omas mit Blümchendekor auf der Badekappe sind gefürchtet. Wie Dämonen aus einer Schattenwelt dringen sie in die Köpfe der Menschen ein, um ihre Gedanken zu steuern und die Wirklichkeit zu verzerren. Zugegeben, diese Vorstellung ist fern der Realität und das Gespinst von Gedanken-kontrollierenden Wesen ist der düsteren Science-Fiction-Serie „Stranger Things“ entlehnt. Klara ist Fan. Aber Omas in Retrobademode sind zumindest lästig.


Oft kriechen die albern planschenden, fragilen älteren Damen in die Köpfe Unwissender, wenn Klara von ihrer Sportart erzählt. Und, Hand aufs Herz: Bei Synchronschwimmen ist Unwissenheit meistens der Status quo. Nicht ernst genommen zu werden, ist eine große Sorge der Athletinnen und der wenigen Athleten dieser mit Klischeebildern behafteten Disziplin. Klara hat irgendwann lieber geschwiegen, anstatt Häme zu ernten. Der Schulhof lehrte, dass Medaillen als Währung der Anerkennung zählen. Eine persönliche Bestleistung hinter den Podiumsplätzen interessierte fast niemanden. Als Heranwachsende kann das arg am Selbstbewusstsein kratzen. „Das Gefühl, eine echte Sportlerin zu sein, fehlte mir“, sagt Klara.


Die 20-Jährige aus Würselen bei Aachen betreibt Kunstschwimmen, seit sie ihrer Schwester Johanna mit fünf Jahren zu den Wasserfreunden Delphin Eschweiler folgte. Mittlerweile taucht ihr Name unter den besten Athletinnen der Welt auf. Um gut zu werden, hat Klara auf der A44 und A52 mehrfach den Äquator umrundet. Nasenbruch und Gehirnerschütterung hielten sie nicht vom Training ab. Vor allem aber lernte sie, dass man nicht immer beeinflussen kann, wann Leistung in Einklang mit Erfolg steht. Glücklicherweise lassen sich selbst alteingesessene Dämonen vertreiben.




Die unerwartete Rückkehr

Klara Bleyer wurde im Dezember zur Nachwuchssportlerin des Jahres im Sportland Nordrhein-Westfalen gewählt. „Ich war schon von meiner Nominierung komplett überrascht“, erzählt sie. „Zuerst habe ich auf Social Media davon erfahren und kurz gezweifelt, ob das echt ist.“ 2017 saß Klara als eines der Toptalente des Landessportbundes im Publikum und applaudierte Falk Wendrich, der damals die Newcomer-Kategorie gewann. Klaras 13-jähriges Ich fand sich mit dem Gedanken ab: „Da kommst du nie wieder hin.“ Doch nicht mit Synchronschwimmen.


Dann hat es Hendrik Wüst eilig, zur Bühne zu gelangen. Klara ist ihm einige zielstrebige Schritte voraus. Laudator Dr. Ingo Wolf fängt sie ab, gratuliert. Der Ministerpräsident kann aufholen und überreicht rechtzeitig den Award. Moderator Claus Lufen spricht von der „vielleicht wichtigsten Auszeichnung des Abends.“ Im vollbesetzten Saal regnet es Beifall. Felix-Preisträger werden von den Bürgerinnen und Bürgern bestimmt. Auf der raumgreifenden Leinwand funkelt golden „Klara Bleyer“. Die Hünen Wüst und Wolf rahmen die 1,53 Meter große Gewinnerin für die Kameras ein. Ohne Kameras stellt sie später klar: „Im Wasser fühle ich mich wohler.“ Die warme Welle der Wertschätzung, die ihr in der Düsseldorfer Classic Remise entgegenschwappt, ist der vorläufige Höhepunkt einer unerwarteten Kehrtwende.

Eschweiler, Würselen, Bochum und viel Autobahn

Klara war zaghaft. Zuerst wollte sie nicht mitkommen. Aber die zwei Jahre ältere Johanna war angefixt. Im Fernsehen hatten die Geschwister einen Beitrag über Niklas Stoepel gesehen, seinerzeit der einzige männliche Profi-Synchronschwimmer Deutschlands. Er hinterließ Eindruck. Also brachten die Eltern beide Töchter zum Probetraining bei den Wasserfreunden in Eschweiler, wissend, dass ihre Jüngste schon beim Babyschwimmen nie aus dem Wasser zu bekommen war. Den anfänglichen Unmut der Fünfjährigen räumte eine Trainerin ab. „Sie sagte zu mir so etwas wie: Wenn du jetzt anfängst, kannst du mal richtig gut werden“, erzählt Klara. Das Mädchen nahm den Motivationsversuch ernst.

Neben dem Kunstschwimmen machen die Schwestern Ballett und voltigieren. Über Landestrainerin Stella Mukhamedova entsteht Kontakt zu den Freien Schwimmern Bochum e.V. Mit zehn und zwölf Jahren wechseln die Schwestern an den Stützpunkt im Ruhrpott. „Das war ein klarer Schritt Richtung Leistungssport“, erklärt Johanna. „In Bochum konnte man konzentrierter und professioneller arbeiten.“ Der Haken ist, Würselen liegt 120 Kilometer entfernt. Die Mädchen steigen nach der Schule zu Mama oder Papa ins Auto. Bald legen sie die Strecke sechsmal pro Woche zurück, um vier bis fünf Stunden am Stück zu trainieren. Rückfahrt nach 22 Uhr. Unterwegs wird gelernt, gegessen, geschlafen, „gelebt“, wirft Vater Maik ein, und gestrickt, um unterzukommen. Ein Pulli dauert etwa fünf Fahrten. „Bochum war der einzige Weg, um besser zu werden“, sagt Klara.

Im letzten Schuljahr vor dem Abitur wohnt Klara im Sportinternat Wattenscheid. Infolge der Corona-Pandemie fällt an vielen Schulen der Schwimmunterricht aus. Klaras Trainingsgruppe profitiert von schier unbegrenzten Wasserzeiten und wächst noch enger zusammen. Es herrscht eiserne Disziplin, aber Klara ist zäh: „Ich will aus meiner Trainingszeit das Beste rausholen. Andere Nationen haben mehr Möglichkeiten.“ Deutschland ist eher Hinterbänkler.

„Synchronschwimmen ist wie eine Sekte“, scherzt Johanna, dann wird sie ernst: „Wir sind mit dieser Trainingsgruppe aufgewachsen und gemeinsam durch emotionale und intime Momente gegangen.“ Mentale Stärke spielt eine große Rolle, betont Klara: „Wenn ich mich wohlfühle und glücklich bin, bringe ich bessere Leistung.“ Das Elternhaus in Würselen ist über die Jahre ihr Kraftzentrum, wo milde Worte wärmen. „Wir wollten Klara nicht zu früh allein auf dem Internat lassen“, sagt Mutter Antje. Dafür nehmen die Eltern den eklatanten Zeit- und Kostenaufwand des Pendelns in Kauf. 2022 macht Klara am Hellweg-Gymnasium Abitur und wird vom DOSB zur Eliteschülerin des Sports ernannt. Inmitten der Prüfungszeit wird sie vierfache Deutsche Meisterin.

Neues Wertungssystem honoriert Mut und Ausdauer

International kommt 2023 ein Wendepunkt. Der Weltverband World Aquatics führt ein neues Wertungssystem ein. Es zielt darauf ab, Leistungen vergleichbarer und Bewertungen transparenter und fairer zu machen. In der technischen Kür schwimmen alle Athleten die gleichen Elemente. In der freien Kür müssen sie jene Elemente zeigen, welche die Trainer dem Kampfgericht im Voraus angeben. Bei Abweichungen gibt es Punktabzüge (Base Marks). Wer in seiner knapp zweieinhalbminütigen Kür viele Figuren mit hohem Schwierigkeitsgrad unterbringt, kann hoch bepunktet werden. Mut zu anspruchsvollen Darbietungen kann sich lohnen, zugleich fallen Fehler stärker ins Gewicht. Auch Synchronität gewinnt an Stellenwert. Explosive, zackige Bewegungen sind einfacher zu synchronisieren und sparen Zeit, um mehr Elemente zu schwimmen. Klara: „Das Künstlerische und die Ästhetik leiden dadurch etwas. Eigentlich ist es eine komplett neue Sportart.“ Als Kind lernte sie, Figuren langsam auszuführen und zu halten. „Das war gut, um seinen Körper kennenzulernen und Technik bewusst zu trainieren,“ weiß sie heute.

Gold für Deutschland war völlig surreal

„Das neue System ist Chance und Risiko zugleich“, findet Klara. „Es öffnet Türen. Das motiviert mich.“ Bei den Jugendeuropameisterschaften auf Madeira begegnet ihr das neue System zum ersten Mal. Klara schwimmt den höchsten Schwierigkeitsgrad des gesamten Feldes und gewinnt die Einzelwertung sowohl in der technischen als auch in der freien Kür. Sie ist die erste Deutsche seit fast 40 Jahren, die bei einer Jugend-EM Gold gewinnt. Mama Antje jubelte am Livestream: „Wir konnten es nicht fassen. Ich glaube, die Ausrichter mussten erstmal die deutsche Nationalhymne googeln.“ Klaras Teamkameraden auf der Tribüne fielen sich in die Arme. „Dieses Ergebnis war völlig surreal“, konstatiert Johanna.


In Fukuoka legt Klara Historisches nach. Der 8. Platz (Technische Kür Solowettbewerb) bei ihrer Premiere im Erwachsenen-Feld ist das beste deutsche WM-Ergebnis aller Zeiten, bis Klara bei den darauffolgenden Weltmeisterschaften in Doha Fünfte wird und eine neue Bestmarke setzt. „Ich rechne mir vorher nichts aus, sonst geht es schief. Ich schwimme für mich, egal auf welchem Platz ich lande.“ Die bitteren Momente mit dem alten Wertungssystem haben Spuren hinterlassen.

Tanz im Wasser

In der technischen Kür werden Pflichtübungen vorgegeben. Die freie Kür ist kreativer. Hier ist die Anzahl der Elemente vorgeschrieben, die dem Kampfgericht vorab mitgeteilt werden müssen. Die Choregrafie soll von künsterlischem Wert sein und synchron zur Musik sowie zum Duettpartner bzw. zur Gruppe ausgeführt werden. Im Teamwettbewerb mit bis zu acht Athlet*innen gibt es zusätzlich Akrobatikelemente, zum Beispiel Hebefiguren. Die Schwimmer dürfen den Beckenboden nicht berühren.

Synchronschwimmen ist seit 1984 für Frauen olympisch. In Paris 2024 finden Duett- und Mannschaftswettbewerbe vom 5. bis 11. August statt. Dann treten zum ersten Mal auch Männer an.

Tanz im Wasser




Klaras Erfolge:

5. Platz Weltmeisterschaften 2024 (jeweils Solo Technische Kür und Freie Kür)
Die beste jemals erreichte Platzierung einer deutschen Athletin
Dreifache Deutsche Meisterin 2024 (Solo Technische und Freie Kür, Acrobatic Routine)
Zweifache Jugendeuropameisterin 2023 (Solo Technische und Freie Kür, Platz im Duett)

8. Platz Weltmeisterschaften 2023 (Solo Technische Kür, 9. Platz im Team, Acrobatic Routine)
Vierfache Deutsche Meisterin 2023 (Solo, Duett, Gruppe, Acrobatic Routine)

Karriereknick Studium?

Die Olympischen Spiele in Los Angeles 2028 sind nun eine Option, aber kein festgelegtes Karriereziel, gibt die Athletin zu verstehen. Klara studiert an der FH Aachen Produktdesign im zweiten Semester und fand Zeit für ein Tischlerpraktikum. „Während des Semesters bekomme ich wenig Schlaf. Ich kann mich an keinen Tag Pause erinnern“, schildert sie. Johanna beobachtet den Workload ihrer Schwester skeptisch: „Klara muss lernen, selbst stopp zu sagen, anstatt darauf zu warten, dass andere es tun.“


Ab dem dritten Semester kann Klara das Studium strecken. „Die meisten Synchronschwimmer hören auf, wenn sie ein Studium oder eine Ausbildung beginnen oder wenn sie einen Minijob brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren“, sagt Klara. „Ich finde es gut, dass ich mich bei der Sportstiftung eigenständig und unabhängig von anderen um eine Förderung bewerben kann. Synchronschwimmen braucht eigentlich jahrelange Erfahrung. Es ist schade, dass unsere Nationalmannschaft fast jedes Jahr neu zusammengesetzt werden muss, weil Athletinnen ihre Karriere beenden.“


Klara erhält durch das NRW-Sportstiftungs-Stipendium monatlich 300 Euro, mit denen sie ein Jahr planen kann. Bereits ein neuer Badeanzug für den Wettkampf kann eine komplette Monatsförderung kosten. Antje näht die Einteiler ihrer Töchter deshalb geschickt selbst. Einer pro Choreografie, Halbwertszeit zirka zwei Jahre. „Man muss sich selbstbewusst darin fühlen“, beschreibt Johanna das wesentliche Merkmal des Anzugs. Dasselbe gilt für die Musik. „Es ist cool, wenn man an der Musik das Thema der Kür erkennt“, sagt Klara, vor allem jedoch dürfe sie im Training nicht nerven. Trainerin Stella bringt ihre Favoriten gerne ein – so arbeiten die Athletinnen auch mal zu indigenen Klängen einer sibirischen Band. Wenn Klara freie Wahl hätte, käme aus den Unterwasserboxen der Soundtrack von „Stranger Things“. Die Hauptrolle der Serie spielt ein Mädchen mit übermenschlichen Fähigkeiten.




Categories: Story Schlagwörter: , , , , , , , , | Comments 11127 Holt holt Gold

Nina, musstest Du schon jemanden vor dem Ertrinken retten?

Nina Holt: Nein.

Viele glauben Rettungsschwimmen aus der Serie „Baywatch“ zu kennen …

Nina: Ja, das ist oft die erste Assoziation. Selbst die meisten Schwimmer wissen nicht, was Rettungssport ist, und stellen sich Leute vor, die am Ostseestrand Wache halten. Mittlerweile nehme ich das mit Humor und versuche mich nicht angegriffen zu fühlen.

Wie sieht die Realität aus?

Nina: Die wenigsten die Rettungssportler machen zusätzlich Wachdienst. Ich war mit 15 Jahren im Junior-Einsatzteam für ein Wochenende an einem Waldsee bei Erkelenz, um von den Älteren lernen und ein bisschen Spaß zu haben. Ab 16 Jahren darf man in den Wachdienst (Wasserrettungsdienst) – so weit ist es bei mir nicht gekommen.

Könntest Du „Rettung schwimmen“?

Nina: Ich wäre dazu fähig, Menschen aus dem Wasser zu holen und Erste-Hilfe Maßnahmen zu ergreifen. Rettungssportler sind verpflichtet, alle zwei Jahre das Silberne Rettungsschwimmabzeichen abzulegen. Wir ersetzen aber keine Sanitäter. Manche sagen, wir sind keine wirklichen Rettungsschwimmer: Wie wollt ihr Leben retten, wenn ihr Puppen kopfüber durch das Wasser zieht?

Ein Mensch würde in der Tat ertrinken. Warum wird das in deiner Sportart so gemacht?

Nina: Das ist ein bisschen irreführend, so würde man tatsächlich keinen Menschen retten. Das Rettungsschwimmen wird immer mehr auf den Sport zugeschnitten. Die Puppe liegt mit dem Gesicht nach unten besser im Wasser, weil ihr Schwerpunkt oben ist. Die Rennen werden so immer schneller und interessanter für Zuschauer. Ich finde die Versportlichung sehr gut. Dadurch verstehen die Leute besser, dass es eine Sportart ist. Der Rettungssport ist inzwischen ein eigenes Ressort in der DLRG, dass nicht mehr dem Einsatzbereich zugeordnet ist. Wir trainieren auf Wettkämpfe hin und nicht auf einen realen Rettungseinsatz.

Klarstellung – Was ist Rettungssport?

In diesem Beitraggeht es nicht um die Glorifizierung des Rettungssports. Niemand ist in Not, wenn Nina ins Wasser springt. Der englische Begriff „Life saving“ imaginiert gar heroische Taten der Sportler. Die Daseins-berechtigung des Rettungssports ist dadurch weder größer noch geringer als jene anderer Sportarten. Vor allem vor falschen Vorstellungen sollte deshalb gerettet werden.

Ursprünglich entsprang der Rettungssport der Idee, Menschen für den Wasser-rettungsdienst zu gewinnen. Denn gute Rettungssportler sind auch gute Rettungsschwimmer. Sie übernehmen Erste-Hilfe-Maßnahmen, die in unmittelbarer Nähe zum Wasser notwendig sind. Kraft, Kondition, Schnelligkeit und die Beherrschung der Rettungsgeräte sind Voraussetzung dafür, auch im Wettbewerb konkurrenz-fähig sein zu können.

Im Rettungssport gibt es 12 Einzel-Disziplinen, je 6 im Becken und im Freiwasser, über unterschiedliche Distanzen. Teils wird mit Flossen geschwommen. In der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft e.V. (DLRG) betreiben rund 60.000 Mitglieder aktiv Rettungssport. Die DLRG ist mit über 1,7 Mio. Mitgliedern die größte Wasserrettungsorganisation der Welt und der wichtigste Schwimmausbilder in Deutschland. Im Jahr 2022 verzeichnete die DLRG 355 tödliche Unfälle im Wasser. In NRW waren es doppelt so viele wie im Vorjahr (von 24 auf 56).

Klarstellung – Was ist Rettungssport?




Exzellenz aus Erkelenz

Nina Holt (Jg. 2000) zählt bereits nach ihrer ersten Teilnahme an den World Games zu den erfolgreichsten Rettungssportlern aller Zeiten. Die 19-jährige Erkelenzerin hat mehrfach Rekorde gebrochen. Bei den großen Sportereignissen im Jahr 2022 hätte sie sechsmal dieselbe Schlagzeile über sich lesen können: Holt holt Gold.

„Ich war die, die im Seepferdchen-Kurs eher durchs Becken gelaufen ist, anstatt zu schwimmen“, sagt Nina. „Ich bin vom Boden abgesprungen. Das gab immer Ärger.“ Am Ende hat es irgendwie doch geklappt. Ninas Mutter war Übungsleiterin beim Anfängerschwimmen im alten Erkelenzer Bad. Möglich, dass sie damals begann, genauer hinzuschauen, was ihre Tochter im Wasser veranstaltet. Auch am 10. Juli des vergangenen Jahres. Der Anlass war einige Nummern größer als das Seepferdchen und Utes Anwesenheit überraschend. „Warst Du auch schon da?“, kommentierte sie ein Foto von der Moon Shine Rooftop Bar mit der Skyline von Birmingham im Hintergrund und schickte es Nina. Die Mutter erlebt live mit, wie Nina bei den World Games im US-Bundesstaat Alabama fünfmal Edelmetall gewann. Dass sie sich dabei auch mal vom Beckenboden abstieß, war hierbei sogar regelkonform.

„So krass“ – überall nur Sportler

Nina ist 14 Jahre alt, als sie im Fernsehen zum ersten Mal Notiz von den World Games nimmt. „Ich dachte: Wow, da möchte ich hin.“ Fünf Jahre später ist sie tatsächlich dabei. Wobei „dabei“ extrem untertrieben ist. Nina dominiert. An den World Games in Birmingham nahmen Aktive aus 110 Nationen teil. „Es war so ein krasses Erlebnis. Mit nichts zu vergleichen. Unbeschreiblich. Das Athletendorf war auf einem Unicampus. Man geht aus der Tür und sieht überall nur Sportler.“

Lächelnd zu Rekorden

Nina ist die Jüngste in der Nationalmannschaft, tritt aber in den meisten Disziplinen an: sechs Starts innerhalb von zwei Tagen. Ihr erstes Rennen ist an einem Nachmittag. Nina hat eine „entspannte“ Nacht hinter sich und konnte ausschlafen. Ein besonderer Luxus für Schwimmer, die normalerweise schon Bahnen ziehen, während sich andere im Bett nochmal umdrehen.

Eine Woche vor den World Games war Ninas Stimmung „eher naja“. Jetzt aber stimmt die Form. „Da muss man dann ehrlich mit sich selber sein“, erklärt sie. „Wenn man die Nerven behält und im Wettkampf reproduziert, was man trainiert hat, dann läuft es einfach. Ich bin lächelnd ins Rennen gegangen und habe mein Ding gemacht.“ Sie gewinnt ihr erstes Gold in der Disziplin 200 Meter Hindernis, bei der pro Bahn zwei 70 Zentimeter tiefe Hindernisse untertaucht werden müssen. Nina unterbietet die von ihr selbst aufgestellte deutsche Bestzeit um drei Sekunden. Innerhalb von 48 Stunden legt sie zwei World-Games Rekorde, einen Weltrekord und reichlich Edelmetall nach.

Zwei Monate nach den World Games reist Nina als Favoritin zu den Weltmeisterschaften im italienischen Riccione. Erneut bricht sie Rekorde und heimst Medaillen ein.

Foto: Denis Foemer (DLRG)

Sie taufen sie „Wasser-Usain-Bolt“

„2022 war das erste Jahr, in dem es durch und durch gut lief“, schwärmt die Athletin. „Ein Unterschied wie Tag und Nacht“, sei es gewesen, im Vergleich zur Saison davor. Wegen Corona blieben damals viele Bäder geschlossen. „Ich bin von Ort zu Ort gereist, um irgendwie Wasserzeiten zu bekommen.“ Dass es sportlich auch anders laufen kann, lehrte die Europameisterschaft. Nina setzt ein Rennen in den Sand. „Das hat mich in dem Moment fertiggemacht“, erzählt sie. „Aber ein schlechter Wettkampf entscheidet nicht über meine Karriere.“ Schon das nächste Rennen lief besser. Am Ende fährt sie ihre erste internationale Medaille in der offenen Klasse ein: Bronze über 200 Meter Hindernis.

Nach ihrem Abitur wird Nina Sportsoldatin. Sie zieht nach Warendorf im Münsterland, wo sich der Bundesstützpunkt für Rettungssportler befindet. Dort trainiert sie täglich mit Material – Puppen, Gurte, Flossen – anstatt nur vor den Wettkämpfen. „Warendorf war ein Leistungssprung“, sagt Nina. Vier Monate nach ihrer Ankunft stellt sie ihren ersten Weltrekord bei den Deutschen Einzelstrecken-Meisterschaften auf – in ihrer Lieblingsdisziplin, der kombinierten Rettungsübung. Zuerst im Vorlauf, dann unterbietet Nina sich selbst im Finale. Ihre Trainingsgruppe verpasst ihr den Spitznamen „Wasser-Usain-Bolt“.




Ninas World-Games-Bilanz

Gold über 200 Meter Hindernis
Bronze über 100 Meter Retten mit Flossen
World-Games-Rekord über 50 Meter Retten
Gold mit der Staffel „4 x 25 m Retten einer Puppe“
Gold + Weltrekord mit der Staffel „4 x 50 m Retten mit Gurt“

Ninas WM-Bilanz

Gold + Weltrekord über 100 Meter Kombinierte Rettungsübung (1:07,04 Minuten)
Gold + Europarekord über 50 Meter Retten einer Puppe
Silber mit der Staffel „4 x 25 m Retten einer Puppe“
Bronze über die 200 Meter Hindernis
Bronze mit der 4×50-m-Rettungsstaffel
Bronze mit der Rettungsstaffel im Freigewässer

Wie fühlt sich das an, einen Weltrekord zu brechen?

Nina: Das mit dem Rekord war eine krasse Sache. Durch meine Zeiten im Training wusste ich, so langsam bin ich nicht. Ich hatte mir den Rekord dann in gewisser Weise vorgenommen. Während des Rennens denkt man nicht: Ich will Weltrekord schwimmen, sondern: Ich will maximal schnell schwimmen. Wir hatten Sprecher in der Halle. Die hatten es gar nicht auf dem Schirm. Ich war mir im Ziel selbst nicht sicher. Die Liste der Rekorde war nicht aktualisiert worden. Ich hatte mir vor dem Rennen die Rekordzeit nochmal angesehen – aber eben die falsche, nicht aktuelle Zeit. Es hätte unangenehm werden können (lacht). Ich war dann knapp darunter. Als ich aus dem Wasser gestiegen bin, sprintete einer aus meiner Trainingsgruppe zum Sprecher. Natürlich ist in diesem Moment noch nichts offiziell, aber die Zeit war erstmal gefallen. Das war für mich in dem Moment genug, um ein bisschen zu feiern.
(Foto DLRG/Daniel-André Reinelt)

Wie fühlt sich das an, einen Weltrekord zu brechen?

Die Puppe braucht Gefühl

Bei der kombinierten Rettungsübung müssen erst 50 Meter Freistil absolviert werden. Dann tauchen die Athleten nonstop 17,5 Meter zum Boden des Beckens. Dort nehmen sie eine 50 Kilogramm schwere Puppe auf, wobei sie sich vom Boden abstoßen dürfen, um die Puppe die übrigen 32,5 Meter ins Ziel zu schleppen. Es kommt auf Geschicklichkeit an. Nina: „Es gibt unheimlich gute Schwimmer, die aber nicht das Gefühl dafür haben, wie man eine Puppe bewegt. Es gibt so viele technische Feinheiten. In der ‚Kombi‘ ist es egal, ob du auf den ersten 50 Metern vorne bist, denn man muss noch zur Puppe tauchen, sie aufnehmen und mit ihr schwimmen. Allein bei der Aufnahme kann die Puppe aus der Hand rutschen und das Rennen entschieden werden.“

So ein Missgeschick passierte Nina zuletzt bei den Deutschen Meisterschaften 2018. Sie verlor die Puppe. Das kostete fünf Sekunden und das Podium. Bitter: In derselben Disziplin hatte sie zuvor bei der Jugendeuropameisterschaft (JEM) Silber gewonnen. Dass sie überhaupt mit damals 15 Jahren an einer JEM teilnehmen konnte, war besonders. Erst 2015 war sie der DLRG Erkelenz beigetreten – eigentlich nur, um mehr Schwimmzeiten abzubekommen. Dass es im Rettungsschwimmen Wettkämpfe gibt, wusste sie nicht. Die DLRG-Ortsgruppe war ein Tipp von Mama. „Im Schwimmsport wäre ich zu dem Zeitpunkt nicht bei einer EM gestartet.“ Die Geschichte nimmt ihren Lauf.

FELIX-Gratulanten: NRW-Ministerpräsident Henrik Wüst (l.), Dr. Ingo Wolf, LSB-Präsident Stefan Klett (r.). Foto: Andrea Bowinkelmann

Präsidenten gratulieren

Nina Holt wird als World-Games-Athletin des Jahres nominiert. Bundespräsident Steinmeier zeichnet sie und die anderen Goldmedaillengewinner mit dem Silbernen Lorbeerblatt aus. Es ist die höchste Auszeichnung für sportliche Spitzenleistungen in Deutschland. Zum Jahresende gratuliert NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst zum FELIX Newcomer-Award. Die Preisträger werden jährlich von den Bürgern per Online-Voting bestimmt. Geht es nach Nina, darf ein „kleiner Erfolg“ nicht unerwähnt bleiben, der nichts mit Rettungssport zu tun hat. Mit dem dritten Platz bei den Deutschen Meisterschaften über 50 Meter Freistil bewies sie sich: „Ich kann auch was im Schwimmen.“

Schwimmen ist im Gegensatz zum Rettungsschwimmen eine olympische Sportart und damit näher dran an Fördertöpfen und Medienpräsenz. „Ich finde es schade, dass unsere Leistungen manchmal runtergespielt werden“, sagt Nina. „World-Games-Sportler machen ihre Sportarten mit dem gleichen Ehrgeiz, mit dem gleichen Ziel zu gewinnen. Man denkt, man bekommt mehr Anerkennung, aber dann gibt es immer wieder mal Punkte, wo man sich denkt, es könnte ein bisschen besser laufen.“ Langsam entwickle sich mehr Förderung für Rettungssportler. Bei der Sportstiftung NRW können sich World-Games-Sportlerinnen und -Sportler seit 01.01.2023 um eine gleichberechtigte Individualförderung bewerben.

Vom FELIX nach Magdeburg (und nach Australien?)

Nach der FELIX-Gala im Dezember bezieht Nina eine 60-Quadratmeter-Wohnung in Magdeburg. In dem Plattenbau wohnen Studenten und Rentner. Ninas erste eigene Wohnung ist „ganz schnuckelig“ und nur fünf Gehminuten von der Elbehalle entfernt. Bundestrainerin Elena Prelle hatte die DLRG zum Jahreswechsel auf eigenen Wunsch verlassen. Da ein Trainerwechsel somit ohnehin anstand, entschied sich Nina nach einigen Probetrainings in ganz Deutschland für den Wechsel von Warendorf an den Bundesstützpunkt „Schwimmen“ in Magdeburg. NRW bleibt sie durch ihre Vereine, die SG Mönchengladbach und die DLRG Harsewinkel, verbunden. Die Trainingsgruppe von Bernd Berkhahn in Magdeburg gilt als eine der stärksten weltweit, unter anderem mit Olympiasieger Florian Wellbrock. „Ich finde es wichtig, sich im Training wohlzufühlen, einem Trainer zu vertrauen und zu verstehen, was wir trainieren. Ich glaube, der Wechsel wird mich weiterbringen.“

Im Schwimmen wird 2023 erstmalig eine U23-EM ausgetragen. „Das schlägt eine Brücke zwischen Jugend und offener Klasse“, erklärt Nina. Wittert sie eine Chance, im olympischen Sport durchzustarten? „Ich will erstmal die Teilnahme schaffen“, wiegelt die Newcomerin ab. Dieses Prinzip hat bisher gut funktioniert: Erstmal am Boden bleiben und sich dann abstoßen. „Vielleicht ziehe ich in neun Jahren nach Australien und will Olympia im Rettungssport machen.“




Categories: Story Schlagwörter: , , , , , , | Comments 9686 Ein großer Spiegel

Die ehemalige Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz-Emmerich (31) ist achtfache deutsche Meisterin. Sie gewann zwei Medaillen bei der Europameisterschaft und als Höhepunkt Bronze bei der WM 2017 in London. Im September 2021 beendet sie ihre sportliche Karriere und erfuhr vom Trainee-Programm der Sportstiftung NRW mit der Dortmunder Stadtwerke AG (DSW21). Parallel macht Pamela eine Ausbildung zum systematischen Coach. Schon steht der nächste große Umbruch bevor: 2023 wird sie Mutter. Hier berichtet sie von ihrer neunmonatigen Trainee-Zeit:

Angst vor dem „Nichts“

Als klar war, ich höre mit dem Sport auf, und ich habe Lust, etwas außerhalb meiner Netz-Bubble zu tun, habe ich die Sportstiftung NRW angerufen. Das Trainee-Angebot fand ich sofort spannend. Man ist in der aktiven Zeit den Blick schon sehr fokussiert auf alles rund um den Sport. Daher hatte ich ein bisschen Angst vor dem „Nichts“ danach. Ich konnte meine Fähigkeiten gar nicht einschätzen. Was muss ich im Job tun? Kann ich ja gar nicht. Habe ich nie gemacht.

Inzwischen weiß ich: Wenn man Lust hat, motiviert ist, Impulse aufnehmen kann – dann kann man sich überall reinfuchsen. Diese Mauer tiefer zumachen vor der Berufswelt, in der mir völlig die Erfahrung fehlte, das war wirklich erleuchtend! Meine Zeit Trainee-Zeit hat mich beruhigt, weil sie mir gezeigt hat, wie breit gefächert mein Aufgabenbereich am Ende sein kann.

„Ich brauche ein klares Ziel und dann laufe ich los und mache.“
Trainee Pamela Dutkiewicz-Emmerich

Ich bin in einem maximalen Veränderungsprozess. Nicht nur meine Tätigkeit hat sich verändert, auch meine Freizeit. In der aktiven Zeit war das entspannt: Buch lesen, Natur, Nervensystem runterbringen. Im Job brauchte ich eher Bewegung und Erlebnis. Ich habe noch nie tagsüber so viele Stunden auf einem Stuhl gesessen. Es war die Challenge, einen Ausgleich zu finden. Ich bin ganz bewusst in jeder Mittagspause um den Block marschiert und war sehr dankbar, mobil arbeiten zu können: auf meiner Terrasse, in der Küche, mal im Café. Nach der Arbeit war ich trotzdem total oft platt.

Ich habe lange gebraucht, um dieses Angestelltenverhältnis für mich einzuordnen. Es ist eine ganz andere Welt als ich bisher kannte. Das machte was mit mir. Ein krasses Aha-Erlebnis. Zu meinem Sportlerinnendasein gehörte zwar mehr als nur das Sporttreiben. Das konnte ich aber alles um den Sport herumbauen. Deshalb war es rückblickend gut und wichtig, dass ich nach dem Karriereende drei Monate hatte, um den neuen Ist-Zustand zu verstehen.

Nach meiner Sportkarriere war ich auf der Suche nach einer Herausforderung, nach etwas Sinnhaftem, nach Verantwortung, Zielen und Orientierung. Im Sport hatte ich die maximale Sinnhaftigkeit in dem, was ich getan habe. Ich musste mich nicht motivieren – ich war immer motiviert. Daher war es total wichtig für mich, herauszufinden, in welche Richtung ich gehen will. Ich bin eine Macherin. Ich brauche ein klares Ziel und dann laufe ich los und mache.

Pamela Dutkiewicz-Emmerich beendete 2021 ihre sportliche Karriere und wechselte ins Trainee-Programm der Sportstiftung NRW mit DSW21.

Out-of-the-box denken

Ich merkte dann, dass ich im Job viel mehr kann, als ich gedacht habe. In der Unternehmenskommunikation bei DSW21 habe ich einiges beitragen können; zum Beispiel wie und wo man Botschaften gut platzieren kann. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Schnittpunkte zu meinen Erfahrungen als Sportlerin gab. Ich habe die Social Media Kanäle der Stadtwerke bespielt, Projekte zum Weltfrauentag umgesetzt und für die Mitarbeiterzeitung geschrieben. Das war etwas richtig Handfestes. Bei meinen Stationen im Gesundheits- und Personalmanagement ging es oft darum, wie man Leute erreicht. Ich fand es schön, jedesmal in neuen, kleinen Teams zusammenzuarbeiten. Ich musste aber lernen zu kommunizieren, was ich kann, so dass mein Team von mir profitiert.

Da, wo ich keine Fachkenntnis habe, bekam ich oft eine positive Rückmeldung, weil ich „out-of-the-box“ denke. Da kann ich wohl mit meinem etwas anderen Blickwinkel gute Impulse geben – und ich traue es mich auch zu tun. Kollegen sagten, ich hätte so einen Drive, etwas schaffen zu wollen. Für mich war wichtig zu sehen, dass ich den Aufgaben in einem Unternehmen gewachsen bin und dazu lerne. Der Punkt ist, dass du ja auch nicht zu einer Olympaisiegerin geboren wirst, sondern, dass du noch viel aus dir rausholen kannst. Nach oben ist viel offen. Da muss man sich nicht selbst beschränken.

Durchsetzen und Mut haben, sich einzubringen: Das habe ich im Sport gelernt, denn ich hatte immer viel Konkurrenz. Aber wir haben auch viel gemeinsam trainiert. Ein Miteinander mit Wertschätzung und Offenheit gegenüber anderen ist für mich völlig selbstverständlich.

Das Traineeprogramm gab mir so viele Einblicke und wahnsinnig viele Erfahrungen. Das ist für mich wie ein großer Spiegel. Oft sah ich dann: Das war gar nicht der Sport, das war ja ich! Ich habe maximal viel aus den neun Monaten mitgenommen, in denen ich immer mehr zu mir gefunden habe. Zu dem, was mich interessiert, was ich weiter forcieren möchte. Ich habe gemerkt, ich hänge noch am Sport. Jetzt fange ich an, in einem neuen Setting erste Schritte zu gehen, meine ersten Hürdenüberquerungen zu machen – das ist die Arbeit als Coach. Ich habe zum Beispiel eine Weiterbildung zu prä- und postnatalen Trainerin angefangen. 2023 erwarte ich mein erstes Kind.

Die Zusammenarbeit mit
den Sportlern fruchtet
wechselseitig.“
Harald Kraus, Vorstand Dortmunder Stadtwerke AG, Arbeitsdirektor

Steckbrief Pamela Dutkiewicz-Emmerich

Ehem. Hürdensprinterin, Jg. 1991, aus Bochum,
TV Wattenscheid

Erfolge:
2018 2. Platz EM
2017 3. Platz WM
2016 Halbfinale Olympische Spiele
DM-Rekordhalterin über 60m und 100m Hürden

Categories: Story Schlagwörter: , , , , , , , , , | Comments 7883 Mut zu Wuppertal

Hinter der Attahöhle macht die Bigge drei Schlenker, dann passiert sie ein abgeschiedenes Forsthaus. Eine Stauanlage lässt den Pegel dort mehrere Meter anschwellen. Gefährliche Strömungen können entstehen. Wegen dieser Nähe zum Wasserbringen Fabians Eltern ihren drei Söhnen früh das Schwimmen bei. Wald und Wiesen ringsum sind Spielplatz der Brüder. Der Vater ist Förster, die Mutter Ärztin. Besonders dem mittleren Sprössling gilt ihre Sorge. Fabian erlitt als Säugling einen Schlaganfall. Seitdem ist er halbseitig gelähmt (sogenannte Hemiparese). Mit der rechten Hand kann er nicht greifen, den Arm kaum benutzen, den rechten Fuß nicht strecken. Fabian rutscht ein einziges Mal versehentlich ins Wasser. Viele Male steckt jedoch volle Absicht dahinter.

„Als Kind habe ich oft Wörter verschluckt oder einfach vergessen“, erzählt Fabian. Wenn er nervös sei, gehe ihm das heute noch so. Der Schlaganfall verletzte Nervenverbindungen in der linken Gehirnhälfte, wo sich das Sprachzentrum befindet. Fabian behält eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Er tut sich schwer, Anschluss bei seinen Schulkameraden zu finden. Er wird scheu, ist schnell verunsichert, manchmal fühlt er sich gemobbt. Das Leben spielt sich überwiegend im Kreis der Familie ab. Fabian beschreibt seine Schulzeit als emotional belastend: „Behinderung und Pubertät sind erst recht schwierig miteinander zu vereinbaren. Ich hatte Angst vor Öffentlichkeit.“

„Ich hatte Angst vor Öffentlichkeit.“
Fabian Brune, Para schwimmer

„Fintos“ einsame Bahnen

Beim Schwimmen kann Fabian abtauchen. Sein älterer Bruder zieht ihn mit. Bald schwimmen beide leistungsorientiert. Doch nur Fabian hält an diesem Kurs fest. Mit zwölf Jahren wird er in den paralympischen Landeskader berufen. Die Eltern fahren ihn einmal pro Woche zum Training nach Köln. Bei einem Kaderlehrgang lernt er Jan aus Wuppertal kennen. Jan fehlt ein Teil des Arms. Die beiden teilen sich im Trainingslager ein Zimmer, werden beste Freunde. Zu Hause im Sauerland wechselt Fabian den Verein, geht ins benachbarte Finnentrop und springt mit 14 Jahren, wenn er kann, jeden Tag ins Becken. Er besorgt sich einen Schlüssel für das „Finto“. Wenn die Badegeäste nach Hause gehen, hat er die Bahnen für sich. Von neun bis halb zwölf. Ganz allein. Die tägliche Routine zieht er durch, bis die Corona-Pandemie den Betrieb lahmlegt.

Nach dem Realschulabschluss beginnt Fabian eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Er sagt: „Ich bin meiner Mutter extrem dankbar, dass sie damals der Empfehlung mich auf eine Sonderschule zu schicken, nicht gefolgt ist.“ In der Berufsschule ist er mit 16 Jahren der Jüngste. Die Mitschüler haben keine Kontaktscheu: Wann seine Wettkämpfe stattfinden würden und wo man ihn im Internet verfolgen könne, wollen sie wissen. Fabian ist irritiert: „Das war das erste Mal, dass jemand Interesse an mir zeigte. Damit konnte ich nicht umgehen. Ich habe mich immer rausgeredet, wenn die anderen etwas unternehmen wollten.“

Bei der Europameisterschaft 2018 schwimmt Fabian in seiner Paradedisziplin 100 Meter Rücken zur Silbermedaille. Im Jahr darauf wird er Sechster bei der Weltmeisterschaft. Der Sport treibt ihn an, zugleich reibt es den Teen auf: das späte Training, häufige Trainerwechsel, das Auf-sich-gestellt-sein, dann Corona. Die Stressfaktoren mehren sich. „Ich war extrem erschöpft und zunehmend lustlos“, schildert der Schwimmer. „Ich musste etwas ändern.“

Wuppertal macht „weiche Knie“, aber verknüpft zwei Ziele

Fabian erhält Angebote aus Potsdam und Wuppertal. Seine Wahl fällt auf das Bergische, wo die Sportstiftung und der Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen (BRSNW) einen paralympischen Trainingsstützpunkt aufbauen. Fabian kann dort sportliche und berufliche Ziele verknüpfen. Die Sportstiftung holt den Athleten und die Bayer AG an einen Tisch. Das Pharmaunternehmen lernt einen zielstrebigen jungen Mann kennen, der bereit ist, seinen Lebensmittelpunkt in Wuppertal aufzubauen, und dem das berufliche Standbein genauso wichtig ist wie der Leistungssport. Fabian zeigt seine Qualitäten als Administrator in einem Schulungszentrum. Halbtags unterstützt er Bayer-Mitarbeiter bei ihrem nächsten Karriereschritt, morgens und abends trainiert er für die Paralympics-Teilnahme.

Kopfmensch macht Kopfzerbrechen

Die erste eigene Wohnung findet Fabian fußläufig zur Schwimmhalle. Kumpel Jan wohnt zwar ebenfalls in Wuppertal, aber das Abnabeln von der Heimat fällt ihm schwer. „Fabian hatte vor dem Umzug weiche Knie“, sagt Mitja Zastrow. Zastrow – Zwei-Meter-Hüne, Olympionike mit Silber über 4×100 m Freistil (Athen 2004) – wird Anfang 2021 von der Sportstiftung und dem BRSNW als Landestrainer Para Schwimmen eingesetzt. „Mitja ist meine erste Bezugsperson. Wir haben die gleichen Ziele. Er ist für mich ein Halt“, sagt Fabian. Zastrow hat schnell erkannt: „Fabian ist der totale Kopfmensch. Er macht sich über alles Gedanken, was nicht gerade hilft, sich auf das zu konzentrieren, was gerade wichtig ist.“ Wenn die Stressfaktoren zunehmen, gibt Zastrow den Gegenpol. „Als Trainer bist du Elternteil, Onkel, Freund, Vertrauensperson – der Ersatz für viele Rollen im Leben der Sportler“, erklärt er. „Für Fabi ist es super, hier in Wuppertal auch nichtbehinderte Trainingspartner zu haben. Er schwimmt im Training zwar hinterher, aber er hat Leute, mit denen er in den Pausen auch mal quatschen kann.“

„Ich sehe nur Lösungen“

Noch zu wenige Para Athleten seien bereit, Fabians Beispiel zu folgen, obwohl sie jede Unterstützung bekommen würden, so der Coach: „Ich zerbreche mir jeden Tag den Kopf darüber, wie ich Fabi besser machen kann.“ Die Infrastruktur ist vorhanden. Zastrow will sich für mehr Aufklärung bei Nachwuchstalenten und Eltern einsetzen – in ganz NRW, aber vor allem im Einzugsgebiet von Wuppertal. „Ich sehe immer nur Lösungen“, sagt er und beschreibt eine: „Eltern könnten die Kinder morgens zum Training bringen, anschließend gehen sie hier zur Schule, bekommen im Teilzeitinternat Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung, können zur Physiotherapie gehen und danach wieder zum Training.“

Fabian trainiert achtmal pro Woche. Gerade lernt er eine neue Technik, die ihm besseren Vortrieb verleiht. Mit der alten schwimmt er eine „Einsneunzehn“ über 100 Meter Rücken. Das genügte nicht für den Finallauf bei den Paralympics in Tokio. Die Umstellung ist ein langer Prozess. „Man wünscht sich, dass es in zwei Wochen klappt, aber es ist halt zwei bis drei Jahre harte Arbeit. Klar, am Anfang sind meine Zeiten erst einmal schlechter“, weiß Fabian.

Wuppertal wertschätzen lernen

„Im Para Sport musst du viel ausprobieren“, sagt sein Trainer. Jede Behinderung erfordert eine eigene Technik. Selbst Para Sportler mit einer Hemiparese, sind trotz identischer Diagnose nicht zwangsläufig vergleichbar. Fabian: „An manchen Tagen ist die Spastik drin, an manchen fühle ich mich gut im Wasser.“

Die nächsten Paralympics finden in zwei Jahren in Paris statt. „Erfolge kommen und gehen“, philosophiert Fabian. „Ich genieße sie natürlich, aber sie sind nicht mein größter Ansporn. Viel wichtiger ist mir, zu zeigen, dass man trotz Problemen Ziele und Erfolge erreichen kann. Jüngere Schwimmer können die Chance, im Behindertensport groß rauszukommen, die Wuppertal bietet, noch nicht wertschätzen. Ich konnte jedenfalls nicht einfach sausen lassen, was die Sportstiftung für mich getan hat.“

Fabian lebt inzwischen in einer WG zusammen mit anderen Schwimmern. Er ist der Älteste, und wenn er im Kühlschrank abgelaufene Lebensmittel entdeckt, weist er seine Mitbewohner ohne Scheu auch mal zurecht. Die Rolle als Vorbild hat er längst angenommen.

STECKBRIEF FABIAN BRUNE

Para Schwimmer, Jg. 2000, aus Attendorn,
SV Bayer Wuppertal, Startklasse S6 / SB6 / SM6,
Groß- und Außenhandelskaufmann

Erfolge:

2021 5. Platz EM 100 m Rücken
2019 6. Platz WM 4×50 m Mixed-Staffel, Platz 100 m Rücken
2018 2. Platz EM 100 m Rücken, Platz 50 m Schmetterling

Categories: Story Schlagwörter: , , , , | Comments 7479 Seekraft

Alles Murren half nichts. Mama ließ sich auf keine Kompromisse ein. Nur für den Geigenunterricht durfte Alexandra das Haus verlassen. Gerade der wäre verzichtbar gewesen. „Das war das einzige Mal, dass ich Hausarrest hatte“, braust es in ihr auf. Anstatt über Saiten hätte sie viel lieber über den See gestreichelt – zwar weniger zart, aber trotzdem gefühlvoll.

An den Wänden ihres früheren Kinderzimmers pappen verblasste Poster. Der Deutschland-Achter, Wale, ein Roboter. Die Gardinen sind noch dieselben. Der Rollentrainer ist neu. Er wird seinen Platz behalten dürfen. Alexandra renoviert gerade. Beim Gedanken an ihren Fauxpas von damals muss sie schuldbewusst grinsen. Ein Wortgefecht mit Mutter und Schwester hatte sie zur Stubenhockerin degradiert. Mit der Erinnerung erwacht jedoch auch leise Empörung: „Ich durfte vier Wochen vor meiner ersten Ruderergometer-Meisterschaft nicht trainieren.“ So tröstend ihre vielen Erfolge danach waren, dieses Gefühl der unerträglichen, machtlosen Untätigkeit hat die Sportlerin sorgsam konserviert. „Wenn ich mein Training ohne einen triftigen Grund nicht mache, habe ich immer ein schlechtes Gewissen“, sagt die 20-Jährige. Im Wochenplan stehen 13 Einheiten.

Ein Riemen, der Bände spricht

Ruderer sind Getriebene des ewigen Kampfs gegen das Laktat. Besonders viele Muskelgruppen sind einer besonders langanhaltenden Belastung ausgesetzt. Um ihre Körper zu wappnen, absolvieren Ruderer ein extrem hohes Trainingspensum. Während eines Wettkampfes über die olympischen 2.000 Meter quälen sich die Athletinnen gut sieben lange Minuten. „Man reizt seine Grenzen aus – das ist das Anspruchsvolle“, findet Alexandra. Es beeindruckt sie, wenn Athleten konstant Topleistungen abrufen, wie Emma Twigg, die neuseeländische Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Einer. Alex ist im Grunde selbst ein gutes Beispiel. In ihrer Wohnung wartet ein knapp drei Meter langer Riemen darauf, seinen Ehrenplatz über der Wohnzimmertür einzunehmen. Alex‘ Medaillen baumeln daran, dicht an dicht, chronologisch sortiert. Es sind 76.

Alexandra hat die wichtigsten Nachwuchspreise im deutschen Sport gewonnen. Mit 17 Jahren wurde sie Junioren-Weltmeisterin und anschließend zur DOSB-Juniorsportlerin des Jahres 2019 gewählt. 2021 gewann sie als frischgebackene U23-Weltmeisterin das Bürgervoting in NRW, das ihr den FELIX Newcomer-Award einbrachte. Sie gehört auch zu den Toptalenten von WestLotto. Fast wäre sie bei den Olympischen Spielen in Tokio gelandet. Eine Coronainfektion verhinderte das.

„Ich hatte Angst vor Öffentlichkeit.“
Fabian Brune, Para schwimmer

„Alex ist der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne“, sagt Frederike, die jüngere Schwester. „Schon früher, bei Fahrradtouren mit Papa, hat sie nie zugelassen, dass jemand vor ihr fuhr.“ Die Geschwister haben viele Jahre auf dem Hennesee trainiert. Auf den Rennradrouten im Hochsauerland, im Kraftraum, auf dem eintönigen Ergometer im Bootshaus des Ruderclubs Meschede. Der innere Schweinhund hat viele Niederlagen einstecken müssen. Frederike wurde Vize-Weltmeisterin mit dem Juniorinnen-Achter.

Täglich grüßt das Dreikäsehoch

„Ich halte Alex nicht für ein Ausnahmetalent“, wiegelt Sebastian Kleinsorgen ab. „Diesen Begriff benutzen zu viele. Es sind ihr Engagement und ihr Wille. Alex brachte von Anfang an die Motivation mit, zu arbeiten. Wenn es anfängt, weh zu tun, legt sie los.“ Trainer Kleinsorgen wurde schnell klar, dass er das Mädchen aus der Nachbarschaft wohl so schnell nicht mehr loswerden würde. Auf dem Straßenfest im Sommer 2013 handelte er mit ihr einen Deal aus: Er würde sie am Wochenende auf den Schultern herumtragen. Im Gegenzug sollte das elfeinhalbjährige Dreikäsehoch am Montag zum Rudertraining auf der Matte stehen. „Klar ist sie erstmal gekentert“, erzählt der Trainer. Für Kinder reichen zwei bis drei Einheiten pro Woche. Alex wollte bald jeden Tag.

Sebastian Kleinsorgen, Familienvater mit zwei Töchtern, arbeitet als Vermessungsingenieur bei der Bezirksregierung in Arnsberg. Er war am Bau des Henne-Boulevards beteiligt, der die Mescheder Innenstadt mit dem Stausee verbindet. Er vermaß die Wege, die ihm heute als Zufahrts- und Trainingsstrecken dienen. Den Rudertrainer gibt er ehrenamtlich, zweimal am Tag. Triezen müsse er seinen Schützling schon, betont er: „Zu Hause irgendwas anderes zu machen ist ja auch toll. Wir müssen uns jeden Tag aufraffen, den Cut finden und sagen: Jetzt ist der Spaß zu Ende, jetzt müssen wir wieder ran.“ Der Schweinehund ist gewieft. „An meinen Bürotagen tut Alex spätestens dann etwas, wenn sie weiß, dass ich auch was getan habe. Sonst hätte sie ja ein Minus im Trainingsprotokoll.“ Also spult Kleinsorgen morgens vor Dienstbeginn 30 Kilometer auf dem Rennrad ab, versendet Beweisfotos, Distanz- und Zeitangaben. Sein Equipment hat er im Büro deponiert. Mitgehangen, mitgefangen. „Wenn wir das nicht so machen würden, ginge großes Potenzial verloren“, meint der Trainer. Den Sport macht er gerne mit. Kleinsorgen ist Ergometer-Vizeweltmeister seiner Altersklasse.

Zwei Dickköpfe auf Augenhöhe

Beide sprechen stringent in der Wir-Form. Es ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auch Frederike hat sie miterlebt. Manchmal, sagt sie, könne man nicht richtig beschreiben, warum etwas gerade nicht funktioniert. Dann sei das enge Verhältnis fürs Gefühl unfassbar wichtig. „Alex kann ein Dickkopf sein“, so die Schwester. „Sie weiß, wann sie recht hat, und beharrt dann darauf. Sebastian aber auch.“ Konflikte vorprogrammiert? „Wir diskutieren und am Ende kommt etwas Besseres dabei heraus“, erklärt Alexandra. „Bei Basti kann ich sagen, was ich denke.“ Der sieht das Vertrauen seiner Athletin pragmatisch: „Ich schaue Alex in die Augen und weiß, was ich ihr am Nachmittag noch zumuten kann.“ Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Langes „Ö“

In der Mescheder Innenstadt, nahe der Ruhr, führt Hermann Föster in vierter Generation ein Elektrofachgeschäft: Interfunk Föster. Mit langen ‚Ö‘, erklärt Alex‘ Vater. Früher seien die Fösters einmal Förster gewesen. Er lächelt gewinnend: „Aber wir Hochsauerländer können kein ‚R‘ aussprechen.“

„Rudern ist hier kein Elitesport – man muss nicht mit dem Porsche am Bootshaus vorfahren. Jugendliche bekommen Zugang“, erklärt der Vater. Dass Alexandras Talent früh von der Sportstiftung NRW gefördert wurde, habe zusätzlich Druck rausgenommen. Der Ruderclub zählt etwa 150 Mitglieder, ein Drittel sind Aktive.

Hermann Föster stieg nach dem Abitur als Lehrling in das Familienunternehmen ein. Dieser Schritt stand damals außer Frage. „Es war eine glückliche Fügung, dass mir die Arbeit auch Spaß gemacht hat“, lächelt er. Seine Töchter sollen selbst bestimmen können, in welche Fußstapfen sie später treten. „Das Erste, was ich mir als Kind wirklich doll gewünscht habe, war ein Lego-Roboter“, sagt seine Älteste. „Technische Sachen liegen mir.“ Alex heimste beste Noten in Mathematik und Physik ein. Beruflich vorstellen kann sie sich vieles. Klar ist, dass noch nichts klar ist.

Frederike widmet sich inzwischen hauptsächlich ihrem Studium in Münster. Alex gefällt die Vorstellung gar nicht, Meschede zu verlassen. Nach ihrem Einser-Abitur schrieb sie sich an der örtlichen Fachhochschule für Elektrotechnik ein. Sport und Studium lassen sich dadurch gut miteinander vereinbaren.

Hausarrest am Hennesees

„Wenn ich den Einer nicht mehr fahren kann, wird es allerdings schwierig, in Meschede zu bleiben“, erklärt sie. Der Bundestrainer besetzt die Boote. Ist eine andere Ruderin im Einer stärker, bliebe Alex eine Kandidatin für den Zweier und den Vierer. In beiden Fällen würde sie mit ihren Partnerinnen am Stützpunkt Berlin trainieren. Dem Vierer werden die größten Medaillenchancen bei Olympischen Spielen eingeräumt.

Um in Meschede bleiben zu können, muss Alex den schnellsten Einer fahren. Doch gilt das auch umgekehrt? Wo endet der Horizont am Hennesee? Welcher Weg führt nach Paris? Wie viel „Hausarrest“ im Sauerland ist gut? Coach und Ruderin sind gleicher Meinung. Kleinsorgen: „Im Vierer ist zwar Wumms dahinter, aber Alex hat das Gefühl, das du brauchst, um einen schnellen Einer zu fahren. Den Einer beherrschen die wenigsten.“

Deutlich unter Tischkante

Alexandra fährt seit ihrem 14. Lebensjahr auf Bundeswettbewerben. 2021 erlebte sie die bisher größte Enttäuschung ihrer jungen Karriere. Im März kam überraschend das Tokio-Ticket in Reichweite, im April handelte sie sich Covid-19 ein. Das volle Programm. Bei der finalen Qualifikations-Regatta im Mai holte sie der Trainingsrückstand ein, nur Platz 6. „Wenn du auf Alex‘ Niveau zwei Wochen nichts machen kannst, musst du das zwei Monate aufholen“, erklärt Kleinsorgen. Trotzdem wurde es ein gutes Jahr. Noch bevor die Olympischen Spiele – ohne sie – eröffnet wurden, feiert Alex ein fulminantes Comeback, holte mit zweieinhalb Bootslängen Vorsprung Gold bei der U23-WM.

Zum Jahresabschluss dann der Erfolg bei der FELIX-Wahl. Eigentlich hatte sie die mit ihr nominierte Skeletoni Hannah Neise vorne erwartet. „Erst Newcomerin und dann Olympiagold – das passt. Das sehe ich bei mir noch weit weg“, gibt sich die Ruderin skeptisch. „Der Preis ist eine Ermutigung, dass man mir Ähnliches zutraut. Vielleicht unterschätze ich mich.“ Auf der Straße habe sie mal ein Postbote erkannt, erzählt sie und grinst. Auch Sebastian Kleinsorgen muss lächeln: „Ihre Erwartungen sind immer deutlich unter der Tischkante. Sie fiel aus allen Wolken, als die Bronzegewinnerin von Tokio, Magdalena Lobnig aus Österreich, im Trainingslager auf uns zukam und Alex mit Namen begrüßte. Wie – die kennt mich?“

„Etwas, was du nicht mit Geld bezahlen kannst“

Vorstellen wird sich Alexandra Föster nicht mehr müssen, wenn sie Paris erreicht. Zur Qualifikation braucht sie eine Top-Ten-Platzierung bei der Weltmeisterschaft 2023. Bei Olympia wünscht sie sich mindestens das B-Finale, in die Top 12. „Das Erreichen dieses Ziels im Einer ist gleichzusetzen mit einer Medaille im Vierer“, analysiert Trainer Kleinsorgen. Den Feinschliff wird sich die Athletin in Meschede holen. Das Boot, mit dem sie sich auf die Reise macht, ruht in einer Halle am Hennesee. Seinen Namen musste sie bei der Olympiaqualifikation in Luzern abknibbeln, weil der Schriftzug auf dem Bug bei hohem Wellengang Nachteile hätte bringen können. Alex hat ihr Boot „It’s my life“ getauft.

Am großen Esstisch von Familie Kleinsorgen ist immer ein Platz für Alexandra reserviert. Die Töchter krabbeln auf ihren Schoß. Alex hatte bei der Renovierung des Hauses mitgeholfen – ein eineinhalbjähriges Projekt neben dem Training. Maria Kleinsorgen rudert ebenfalls. „Sie ist unser größter Sponsor“, sagt ihr Mann. „Ohne ihr Verständnis stünden wir ganz schnell ganz doof da.“ Maria hat das große Ganze verstanden: „Du machst etwas mit, was du am Ende deines Lebens nicht mit Geld bezahlen kannst.“

STECKBRIEF ALEXANDRA FÖSTER

Ruderin (Einer), Jg. 2002, aus Meschede, Ruderclub Meschede,
Studentin der Elektrotechnik

Erfolge:
2021 1. Platz WM U23
2021 1. Platz WM U23 IndoorRowing
2020 2. Platz EM U23Platz Jun.-WM U19 IndoorRowing
2019 1. Platz Jun.-WM U19
2019 3. Platz EM U19
2019 1. Platz Jun.-WM IndoorRowing U19
2018 2. Platz Jun.-WM U19, Doppelvierer

Categories: Story Schlagwörter: , , , , | Comments 7694 Über London nach Paris

Herausforderungen im Studium

„Es ist bildungsmäßig die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt Moritz über sein Master-Studium an der London School of Economics and Political Science (LSE): „Du wirst übel hart herausgefordert, bekommst von den Dozenten aber auch die maximale Beachtung. Ich verstehe, warum das eine der besten Unis der Welt ist.“ Die Aufnahmequote liegt bei knapp 6 Prozent, 85 Prozent der Studierenden kommen aus aller Welt, 40 Staatschefs und 19 Nobelpreisträger haben dort studiert, wo Moritz nun den Großteil seiner Zeit verbringt. Das hat seinen Preis: 40.000 Euro bezahlt er für Studium, Miete und Sonstiges.

Tunnelblick: Uni und Sport

Eine Sonderförderung der Sportstiftung NRW, die private Birgit-und-Thomas-Rabe-Stiftung und seine Familie unterstützen ihn. Moritz kann so sein Training neben dem Studium kontinuierlich fortsetzen. „Die ganze Aktion ist für mich ein großer Tunnelblick: Uni und Sport. So eine Chance kriegst du nie wieder“, sagt der Leichlinger. „Da unterrichten dich Leute, die die besten Lehrbücher schreiben und es ist ein Privileg, sich hier austauschen zu dürfen.“ Dafür gibt es eine Anwesenheitspflicht. „Wenn du ein- oder zweimal unentschuldigt fehlst, bist du weg“, erzählt Moritz. Dass er weiter Leistungssport machen kann, ist eher dem Zufall geschuldet „Ich wollte mich auf die Uni konzentrieren und habe immer gesagt: Ich bin glücklich und dankbar für alles, was im Sport möglich ist. Und dann hatte ich sehr viel Glück“, meint der 23-Jährige.

Kurz und knackig

Seine Trainingsgelegenheit fand er über Google Maps an der Central-Line-Haltestelle Mile End. Dort traf er Coach Chris Zah, in Großbritanniens Leichtathletikszene bekannt für 400-Meter-Läufer, die bei Olympia oder den Paralympics gestartet sind. Perfekt! „Hier kommen Siebenjährige aus den Docklands und 65-jährige Rentner. Wir sind eine riesige Gruppe.“ Zah hat Paraplegiker und Spastiker trainiert, kennt sich also aus, was es heißt, dass Moritz eine Hemiparese rechtsseitig hat: „Mit meiner Spastik ist es geiler, morgens nicht zu laufen. Deshalb habe ich um 16 Uhr Einzeltraining – viermal die Woche.“ Zahs Ansatz war ihm neu: „Wir trainieren megaanders. Kern-Essenz der Einheit ist es, kurz richtig zu laufen statt eine Stunde die Konzentration hochzuhalten“, erzählt Moritz.

„So eine Chance kriegst du nie wieder!“
Para Leichtathlet Moritz Raykowski über seinen zweigleisigen Weg: Uni und Sport

Die richtigen Trainingsreize setzen

„Hier ist das Motto: Sei gesund, dann kannst du dich bewegen. Wenn eine Übung wegen der Spastik weh tut, lasse ich sie weg. Ich hatte drei Mal in meinem Leben einen Ermüdungsbruch, aber egal wie frustrierend das ist: Paris 2024 ist das Ziel.“ Moritz‘ Traum von den Paralympics kommt die neue Trainingsmentalität entgegen. „Nach fünf Wochen machen wir eine Woche Pause, dann kommst du frisch wieder. Mir bringt das megaviel.“ Ansonsten sieht der ganzheitliche Ansatz von Zah vor, dass viel geschlafen und auf die Ernährung geachtet werden soll: „Wenn ich eine Klausur habe, gibt es einen anderen Plan. Das Training ist so wettkampfnah, dass ich da nicht zu viel verliere, das ist stark.“

Der Blick nach vorne

Zur deutschen Meisterschaft 2022 wird Moritz nach Regensburg fliegen, um seinen deutschen Rekord über 400 Meter zu unterbieten. Wenn sein Master beendet ist, will er wieder beim TSV Bayer Leverkusen trainieren und in Köln promovieren. Am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung gibt es ein Unterinstitut, wo er ab Oktober arbeiten und forschen möchte. Die Zeit in London hat ihm wichtige Erkenntnisse verschafft: „Es ist ein Segen zu wissen: Mit dem Programm, das ich aktuell habe, kann ich mit meiner Spastik mit viermal Training gewisse Dinge erreichen und gesund arbeiten.“

Moritz Raykowski

Para Leichtathlet, Jg. 1999, aus Leverkusen
TSV Bayer 04 Leverkusen, Startklasse T 37

Erfolge:
2018 5. Platz EM 400m
2017 4. Platz Jun.-WM 800m
2016 Jun.-WM 2. Platz 100 m, 3. Platz 800m
2015 Jun.-WM 2. Platz 200m, 3. Platz 100m und 400m

Berufsziel Professor: Moritz Raykowski studiert an der renommierten London School of Economics and Political Science. Foto: Oliver Heuser

Categories: Story Schlagwörter: , , | Comments 7601 Was machen eigentlich Yvonne und Philipp?

Badmintonspielerin & Leichtathlet
Praktikanten bei Evonik in Essen

Yvonne Li hat während ihrer Zeit bei Evonik ihren dritten deutschen Meistertitel im Einzel eingefahren. Kurz zuvor war sie als Teil des deutschen Olympiakaders nach Tokio gereist. „Das war eine fantastische Erfahrung und ich arbeite jetzt schon auf eine Teilnahme im Jahr 2024 hin“, sagt Yvonne.

Parallel zu ihrer sportlichen Karriere studiert sie Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Duisburg-Essen. Zusätzlich arbeitet Yvonne in ihren Turnierpausen bei Evonik. Dies läuft über die Sportstiftung NRW, die es Leistungssportlern ermöglicht, ihren Sport zu verfolgen und gleichzeitig Praxiserfahrung in Unternehmen zu sammeln. So lassen sich Training, Wettkämpfe und weitere berufliche Ziele miteinander verbinden.

Yvonne ist viel zum Zug gekommen

Yvonne nutzte die Möglichkeit, Evonik im Sommer kennenzulernen und absolvierte den ersten Teil ihres mehrwöchigen Praktikums im Brainpool bei Technology & Infrastructure. Der Brainpool ist der Praktikanten-Pool des Technischen Service, der gemeinsam an unterschiedlichen Fragestellungen arbeitet. Yvonnes Team organisierte ein TechTalk-Event zum Thema „Industrie 4.0“.

Beim ersten Kennenlernen ihrer Kollegen war Yvonne aus dem Olympischen Dorf in Tokio zugeschaltet. Der durchgetaktete, enge Zeitplan der Leistungssportlerin macht vorausschauende Planung unerlässlich. Yvonne ist auf die Flexibilität des Unternehmens angewiesen. „Nach meinem Praktikum war ich zum Beispiel drei Monate nonstop auf Turnieren unterwegs“, erzählt die Badmintonspielerin. „Im Brainpool sind sich alle auf Augenhöhe begegnet – das hat mir sehr gut gefallen. Als Praktikantin ist man viel zum Zug gekommen“, sagt sie. Nach den Weltmeisterschaften im Sommer 2022 will Yvonne ihr Praktikum fortsetzen. „Alle waren daran sehr interessiert, haben sich direkt gekümmert und mir eine Kooperation bei meiner Bachelorarbeit in Aussicht gestellt.“

Philipp weiß jetzt, wohin die Reise geht

Philipp Trutenat übernahm im Herbst den Staffelstab von Yvonne. Darin ist der Sprinter vom TV Wattenscheid geübt. Philipp studiert Maschinenbau an der Ruhr-Universität und kam ebenfalls über die Sportstiftung zu seinem Praktikumsplatz im Brainpool. Wie Yvonne arbeitete er tagsüber und trainierte abends mehrere Stunden, während die anderen Praktikanten längst Feierabend hatten. Die kurzen Wege vom Konzern zur Leichtathletikhalle kamen ihm entgegen. Von „anstrengenden dreieinhalb Monaten“, berichtet Philipp, die er aber „spannend und sehr positiv“ bewertet. „Ich kann ein gewisses Stresslevel vielleicht besser abhaben als andere. Im Sport arbeiten wir ständig auf Deadlines hin.“

Mit seinen Resultaten aus der Hallensaison ist Philipp zwar nicht zufrieden. Dafür hat die einkalkulierte Doppelbelastung etwas anderes dauerhaft Wertvolles eingebracht: „Anfangs wusste auch ich nicht, wohin die Reise für mich beruflich geht. Das Praktikum war ein gutes Sprungbrett.“ Auch Philipp hat ein Angebot, seine Bachelorarbeit bei Evonik zu schreiben. Zu den Olympischen Spielen nach Paris will der deutsche Rekordhalter mit der 4×100-Meter-Staffel danach ebenfalls.

„So eine Chance kriegst du nie wieder!“
Para Leichtathlet Moritz Raykowski über seinen zweigleisigen Weg: Uni und Sport

Steckbrief Yvonne Li

Badmintonspielerin (Einzel), Jg. 1998, aus Mülheim an der Ruhr
Studentin Wirtschaftsingenieurwesen

Erfolge:
2021 15. Platz Olympische Spiele
2021 9. Platz WM (Team)
2021 10. Platz EM (Team), 5. Platz (Einzel)
2018–2020 2. Platz EM (Team)
2018–2020 1. Platz DM (Einzel), 2020 (Doppel)

Steckbrief Philipp Trutenat

Leichtathlet (Sprint), Jg. 1996, aus Dinslaken
Student Maschinenbau

Erfolge:
2020 2. Platz DM (Halle), 4×200-m-Staffel
2019 2. Platz DM (Halle), 4×200-m-Staffel
2019 1. Platz EM U23, 4×100-m-Staffel
2018 1. Platz DM, 4×100-m-Staffel

Philipp Trutenat, Sprinter des TV Wattenscheid

Yvonne Li, Badmintonspielerin Categories: Story Schlagwörter: , , , | Comments 7483 Was macht eigentlich Luisa?

Ruderin, Praktikantin bei KPMG

Der Morgen graut am Mittag. Da sie eh schon wach sei, tippt Luisa in den Chat, könnten wir mit dem Interview direkt loslegen. An Amerikas Ostküste ist jetzt Frühstückszeit. Nordrhein-Westfalen ist sechs Stunden, also eine Mahlzeit, voraus. Erst spät, vor dem Zubettgehen, war die Interviewanfrage bei der Studentin eingetroffen. Aber bei Luisa geht es zackig.

„Du siehst Arbeit vor dir, dann nimmst du sie an“, verteidigt die 27-Jährige ihren Workflow. Diese Einstellung habe sie Zuhause vorgelebt bekommen. Weihnachten, Ostern, Erster Mai – im Gastronomiebetrieb der Familie Neerschulte aus dem emsländischen Lingen wurde immer gearbeitet. „Ich kenne meine Eltern nicht auf der Couch sitzend“, erzählt Luisa. Im Alter von zwölf Jahren hilft die Tochter bereits mit, Getränke auszuschenken. „Man musste sich als Kind auch mal Sachen verdienen. Es gab nicht alles geschenkt“, sagt die Ruderin vom ETUF Essen e. V. „Heute bin ich für diese Erziehung dankbar.“

Stipendium für prestigeträchtiges Ruderer

Nach Manhattan braucht Luisa eine knappe Autostunde über den Highway 95. Seit Anfang 2020 lebt sie so dicht am weltberühmten Geschäfts- und Finanzzentrum. Im angrenzenden US-Bundesstaat New Jersey befindet sich die Rutgers University, an der Luisa Betriebswirtschaftslehre studiert. Ein Sportlerstipendium deckt ihre Studienkosten vollständig. Ein US-Coach hatte ihr das Stipendium angeboten, die Bewerbung war dann Formsache. Amerikanische Colleges stehen in einem Rekrutierungswettbewerb um die besten Athletinnen und Athleten weltweit. Rudern ist dort eine der ältesten und prestigeträchtigsten Sportarten. Zum ersten Mal wurde Luisa nach dem Abitur über die sozialen Medien angeschrieben, ob sie sich nicht für ein „Scholarship“ bewerben wolle. Damals winkte sie ab.

„Ergo 1“ im Pumakäfig erkämpft

Als sie mit dem deutschen Team 2019 beim Windermere Cup in Seattle startet, flammt das Interesse neu auf. „Rudern“, erklärt Luisa, „genießt in den USA viel größere Wertschätzung. Alle sind positiv eingestellt und die Athleten feuern sich bei jedem Training gegenseitig an.“ Stipendiatin Luisa ist für den Achter ihrer Uni, die „Scarlet Knights“, startberechtigt und eine Leistungsträgerin. Rund 80 Ruderinnen kämpfen bei den Ergometer-Wettkämpfen dicht aneinandergereiht um die Plätze im Boot. „Im Sportcenter herrscht eine Luft wie im Pumakäfig“, erzählt die Studentin. Nur „Ergo 1“ steht direkt neben dem Ventilator. Es ist Luisas Platz. Sie fährt Workout für Workout die schnellsten Zeiten.

Es falle ihr hier leichter, in beiden Bereichen gut zu sein, erklärt die deutsche Studentin. Leistungssport und Studium seien besser aufeinander abgestimmt, die Dozenten kulanter. Die Noten setzen sich aus mehreren, kleineren Aufgaben zusammen, fast wie in der Schule. Luisas Notenschnitt beträgt 3,96. Im deutschen Zensursystem liegt sie umgerechnet bei 1,05 „Ich stelle hohe Ansprüche an mich“, sagt sie.

Luisa sucht die extreme Erfahrung

Die Coronapolitik der Regierung Donald Trumps zwingt Luisa kurz nach ihrer Ankunft in den USA wieder zur Heimkehr. Das Studium muss sie im Onlinemodus fortsetzen. Den ungeplanten Aufenthalt in Deutschland will sie dennoch optimal nutzen. Für die Semesterferien guckt sich Luisa ein dreimonatiges Praktikum bei KPMG aus. Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen ist Partner der Sportstiftung NRW. Über die Zwillingskarriere können Sportler dort während ihrer Karriere Berufserfahrung sammeln. „Wer dieses Angebot nicht annimmt, der ist selber schuld, findet Luisa. „Es ist von der Sportstiftung super organisiert und öffnet Sportlern, die hart arbeiten, jegliche Türen.“

Luisa arbeitet bei KPMG in der Abteilung „Gobal Transfer Pricing“ in Vollzeit. Parallel trainierte sie im Heimatort Lingen und belegte drei Sommerkurse an ihrer Uni: „Das war hart, weil die Kurse nach deutscher Zeit vorwiegend nachts stattfanden. Aber ich wollte diese extreme Erfahrung trotzdem machen. Deshalb habe ich auch bei KPMG immer wieder nach Aufgaben gefragt.“ Das Unternehmen lässt Luisa freie Hand, ihre Trainings- und Arbeitszeiten zu koordinieren.

Höchste Auszeichung für die deutsche Studentin

Durch die Corona-Pandemie wurden 2020 alle Wettkämpfe abgesagt. Die Rutgers University bot Luisa deshalb an, ihre Startberechtigung um ein Jahr zu verlängern. Der Coach musste sie nicht lange bitten. Mit Zugpferd Luisa gelingt dem Uni-Achter die Qualifikation für die US-Meisterschaften, wo das Team einen achtbaren fünften Platz erzielt. Luisa erhält die höchste persönliche Auszeichnung, den „All American – 1st Team“. Zudem ehrt die Universität sie mit dem „CRCA Student-Athlete Award“ für sehr gute sportliche und akademische Leistungen. „Hier war ich tatsächlich die einzige Nichtmuttersprachlerin, die das Glück hatte, diese Auszeichnung zu bekommen“, sagt Luisa.

Mit Master in den Anschlussjob

„Für mich hat es sich gelohnt, immer wieder mal ein bisschen mehr zu machen, als ich musste.“ Im Mai 2022 wird die Ruderin mit ihrem zweiten Masterabschluss nach Nordrhein-Westfalen zurückkehren. Sie hat gezeigt, dass ein Praktikum mit dem Leistungstraining vereinbar ist. Wer das Gegenteil behauptet, erntet ihr Unverständnis. „Das eine Praktikum hilft dir doch, das nächste zu bekommen. Warum sollte mich ein Unternehmen nach dem Studium ohne jegliche Praxiserfahrung von der Straße holen?“, argumentiert sie.

Diese Sorge ist Luisa los. Ihr Praktikum hatte Folgen. Im Herbst tritt Luisa bei KMPG in Düsseldorf eine 60-Prozent-Stelle an. Ein Tag Büro, zwei Tage Homeoffice – daneben bleibt genug Zeit, die sie mit ihrem NRW-Trainerteam am Essener Baldeneysee verbringen kann. Das, betont Luisa, sei übrigens mindestens genauso gut wie in den USA. „Ergo 1“ macht eine Kampfansage in Richtung Olympische Spiele in Paris. Ganz nach dem Motto: Du siehst Arbeit vor dir, dann nimmst du sie mit.

„So eine Chance kriegst du nie wieder!“
Para Leichtathlet Moritz Raykowski über seinen zweigleisigen Weg: Uni und Sport

Steckbrief Luisa Neerschulte

Ruderin (Zweier), Jg. 1994, aus Lingen
Studentin Economics/Labour Management/HR

Erfolge:
2021 1. Platz DM (Großboot) im Doppelzweier, Doppelvierer und Mixed-Achter
2019 6. Platz Weltcup Finale C, (W2-)

Luisa Neerschulte rudert für ETUF Essen und für die Rutgers University in den USA

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