Hinter der Attahöhle macht die Bigge drei Schlenker, dann passiert sie ein abgeschiedenes Forsthaus. Eine Stauanlage lässt den Pegel dort mehrere Meter anschwellen. Gefährliche Strömungen können entstehen. Wegen dieser Nähe zum Wasserbringen Fabians Eltern ihren drei Söhnen früh das Schwimmen bei. Wald und Wiesen ringsum sind Spielplatz der Brüder. Der Vater ist Förster, die Mutter Ärztin. Besonders dem mittleren Sprössling gilt ihre Sorge. Fabian erlitt als Säugling einen Schlaganfall. Seitdem ist er halbseitig gelähmt (sogenannte Hemiparese). Mit der rechten Hand kann er nicht greifen, den Arm kaum benutzen, den rechten Fuß nicht strecken. Fabian rutscht ein einziges Mal versehentlich ins Wasser. Viele Male steckt jedoch volle Absicht dahinter.
„Als Kind habe ich oft Wörter verschluckt oder einfach vergessen“, erzählt Fabian. Wenn er nervös sei, gehe ihm das heute noch so. Der Schlaganfall verletzte Nervenverbindungen in der linken Gehirnhälfte, wo sich das Sprachzentrum befindet. Fabian behält eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Er tut sich schwer, Anschluss bei seinen Schulkameraden zu finden. Er wird scheu, ist schnell verunsichert, manchmal fühlt er sich gemobbt. Das Leben spielt sich überwiegend im Kreis der Familie ab. Fabian beschreibt seine Schulzeit als emotional belastend: „Behinderung und Pubertät sind erst recht schwierig miteinander zu vereinbaren. Ich hatte Angst vor Öffentlichkeit.“
„Fintos“ einsame Bahnen
Beim Schwimmen kann Fabian abtauchen. Sein älterer Bruder zieht ihn mit. Bald schwimmen beide leistungsorientiert. Doch nur Fabian hält an diesem Kurs fest. Mit zwölf Jahren wird er in den paralympischen Landeskader berufen. Die Eltern fahren ihn einmal pro Woche zum Training nach Köln. Bei einem Kaderlehrgang lernt er Jan aus Wuppertal kennen. Jan fehlt ein Teil des Arms. Die beiden teilen sich im Trainingslager ein Zimmer, werden beste Freunde. Zu Hause im Sauerland wechselt Fabian den Verein, geht ins benachbarte Finnentrop und springt mit 14 Jahren, wenn er kann, jeden Tag ins Becken. Er besorgt sich einen Schlüssel für das „Finto“. Wenn die Badegeäste nach Hause gehen, hat er die Bahnen für sich. Von neun bis halb zwölf. Ganz allein. Die tägliche Routine zieht er durch, bis die Corona-Pandemie den Betrieb lahmlegt.
Nach dem Realschulabschluss beginnt Fabian eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Er sagt: „Ich bin meiner Mutter extrem dankbar, dass sie damals der Empfehlung mich auf eine Sonderschule zu schicken, nicht gefolgt ist.“ In der Berufsschule ist er mit 16 Jahren der Jüngste. Die Mitschüler haben keine Kontaktscheu: Wann seine Wettkämpfe stattfinden würden und wo man ihn im Internet verfolgen könne, wollen sie wissen. Fabian ist irritiert: „Das war das erste Mal, dass jemand Interesse an mir zeigte. Damit konnte ich nicht umgehen. Ich habe mich immer rausgeredet, wenn die anderen etwas unternehmen wollten.“
Bei der Europameisterschaft 2018 schwimmt Fabian in seiner Paradedisziplin 100 Meter Rücken zur Silbermedaille. Im Jahr darauf wird er Sechster bei der Weltmeisterschaft. Der Sport treibt ihn an, zugleich reibt es den Teen auf: das späte Training, häufige Trainerwechsel, das Auf-sich-gestellt-sein, dann Corona. Die Stressfaktoren mehren sich. „Ich war extrem erschöpft und zunehmend lustlos“, schildert der Schwimmer. „Ich musste etwas ändern.“
Wuppertal macht „weiche Knie“, aber verknüpft zwei Ziele
Fabian erhält Angebote aus Potsdam und Wuppertal. Seine Wahl fällt auf das Bergische, wo die Sportstiftung und der Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen (BRSNW) einen paralympischen Trainingsstützpunkt aufbauen. Fabian kann dort sportliche und berufliche Ziele verknüpfen. Die Sportstiftung holt den Athleten und die Bayer AG an einen Tisch. Das Pharmaunternehmen lernt einen zielstrebigen jungen Mann kennen, der bereit ist, seinen Lebensmittelpunkt in Wuppertal aufzubauen, und dem das berufliche Standbein genauso wichtig ist wie der Leistungssport. Fabian zeigt seine Qualitäten als Administrator in einem Schulungszentrum. Halbtags unterstützt er Bayer-Mitarbeiter bei ihrem nächsten Karriereschritt, morgens und abends trainiert er für die Paralympics-Teilnahme.
Kopfmensch macht Kopfzerbrechen
Die erste eigene Wohnung findet Fabian fußläufig zur Schwimmhalle. Kumpel Jan wohnt zwar ebenfalls in Wuppertal, aber das Abnabeln von der Heimat fällt ihm schwer. „Fabian hatte vor dem Umzug weiche Knie“, sagt Mitja Zastrow. Zastrow – Zwei-Meter-Hüne, Olympionike mit Silber über 4×100 m Freistil (Athen 2004) – wird Anfang 2021 von der Sportstiftung und dem BRSNW als Landestrainer Para Schwimmen eingesetzt. „Mitja ist meine erste Bezugsperson. Wir haben die gleichen Ziele. Er ist für mich ein Halt“, sagt Fabian. Zastrow hat schnell erkannt: „Fabian ist der totale Kopfmensch. Er macht sich über alles Gedanken, was nicht gerade hilft, sich auf das zu konzentrieren, was gerade wichtig ist.“ Wenn die Stressfaktoren zunehmen, gibt Zastrow den Gegenpol. „Als Trainer bist du Elternteil, Onkel, Freund, Vertrauensperson – der Ersatz für viele Rollen im Leben der Sportler“, erklärt er. „Für Fabi ist es super, hier in Wuppertal auch nichtbehinderte Trainingspartner zu haben. Er schwimmt im Training zwar hinterher, aber er hat Leute, mit denen er in den Pausen auch mal quatschen kann.“
„Ich sehe nur Lösungen“
Noch zu wenige Para Athleten seien bereit, Fabians Beispiel zu folgen, obwohl sie jede Unterstützung bekommen würden, so der Coach: „Ich zerbreche mir jeden Tag den Kopf darüber, wie ich Fabi besser machen kann.“ Die Infrastruktur ist vorhanden. Zastrow will sich für mehr Aufklärung bei Nachwuchstalenten und Eltern einsetzen – in ganz NRW, aber vor allem im Einzugsgebiet von Wuppertal. „Ich sehe immer nur Lösungen“, sagt er und beschreibt eine: „Eltern könnten die Kinder morgens zum Training bringen, anschließend gehen sie hier zur Schule, bekommen im Teilzeitinternat Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung, können zur Physiotherapie gehen und danach wieder zum Training.“
Fabian trainiert achtmal pro Woche. Gerade lernt er eine neue Technik, die ihm besseren Vortrieb verleiht. Mit der alten schwimmt er eine „Einsneunzehn“ über 100 Meter Rücken. Das genügte nicht für den Finallauf bei den Paralympics in Tokio. Die Umstellung ist ein langer Prozess. „Man wünscht sich, dass es in zwei Wochen klappt, aber es ist halt zwei bis drei Jahre harte Arbeit. Klar, am Anfang sind meine Zeiten erst einmal schlechter“, weiß Fabian.
Wuppertal wertschätzen lernen
„Im Para Sport musst du viel ausprobieren“, sagt sein Trainer. Jede Behinderung erfordert eine eigene Technik. Selbst Para Sportler mit einer Hemiparese, sind trotz identischer Diagnose nicht zwangsläufig vergleichbar. Fabian: „An manchen Tagen ist die Spastik drin, an manchen fühle ich mich gut im Wasser.“
Die nächsten Paralympics finden in zwei Jahren in Paris statt. „Erfolge kommen und gehen“, philosophiert Fabian. „Ich genieße sie natürlich, aber sie sind nicht mein größter Ansporn. Viel wichtiger ist mir, zu zeigen, dass man trotz Problemen Ziele und Erfolge erreichen kann. Jüngere Schwimmer können die Chance, im Behindertensport groß rauszukommen, die Wuppertal bietet, noch nicht wertschätzen. Ich konnte jedenfalls nicht einfach sausen lassen, was die Sportstiftung für mich getan hat.“
Fabian lebt inzwischen in einer WG zusammen mit anderen Schwimmern. Er ist der Älteste, und wenn er im Kühlschrank abgelaufene Lebensmittel entdeckt, weist er seine Mitbewohner ohne Scheu auch mal zurecht. Die Rolle als Vorbild hat er längst angenommen.
STECKBRIEF FABIAN BRUNE
Para Schwimmer, Jg. 2000, aus Attendorn,
SV Bayer Wuppertal, Startklasse S6 / SB6 / SM6,
Groß- und Außenhandelskaufmann
Erfolge:
2021 5. Platz EM 100 m Rücken
2019 6. Platz WM 4×50 m Mixed-Staffel, Platz 100 m Rücken
2018 2. Platz EM 100 m Rücken, Platz 50 m Schmetterling
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Die Sportstiftung NRW hat die 19 Deaflympics-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer aus Nordrhein-Westfalen bei einer Feierstunde im Deutschen Sport & Olympia Museum gewürdigt. Erstmals erhielten gehörlose Sportlerinnen und Sportler die Prämien der Sportstiftung NRW in Höhe von je 3.500 Euro für ihre Teilnahme an den Deaflympics. Vor Ort waren circa 40 Gäste.
Dr. Ingo Wolf, Vorstandsvorsitzender der Sportstiftung NRW: „Was für uns zählt, ist, dass junge Talente zu starken Persönlichkeiten und mündigen Athletinnen und Athleten heranwachsen. Durch ihre inspirierenden Leistungen, ihre besonderen Erfahrungen und Kompetenzen aus dem Sport können sie viele gesellschaftliche Bereiche bereichern. Die Teilnahmeprämie ist eine Anerkennung des bisher Geleisteten und ein Ansporn diesen Weg fortsetzen.“
Die Geehrten:
Badminton
- Finja Rosendahl (9. Platz im Einzel Jg. 2003, aus Mülheim an der Ruhr, GSV Düsseldorf)
- Oliver Witte (17. Platz im Einzel, Jg. 1978, aus Fredersdorf, GSV Düsseldorf)
Beach-Volleyball
- Henrik Templin (Bronze mit Partner Max Pähler, Jg. 2001, aus Gießen, GSV Düsseldorf)
- Marco Sudy (7. Platz mit Partner Tobias Franz, Jg. 1983, aus Köln, GSV Düsseldorf)
Fußball (4. Platz mit der deutschen Mannschaft)
- Luca Ballmann (Jg. 1996, aus Mülheim an der Ruhr, GSV Düsseldorf)
- Marc Christ (Jg. 1985, aus Essen, GTSV Essen)
- Andreas Fischer (Jg. 1982, aus Pulheim, GSV Düsseldorf)
- Joshua Füner (Jg. 1998, aus Rastatt, GTSV Essen)
- Bastian Janis Hoffmeyer (Jg. 2002, aus Krefeld, GSV Düsseldorf)
- Florian Kralani (Jg. 1995, aus Lünen, GSV Düsseldorf)
- Alexander Peters (Jg. 1991, aus Dortmund, GSV Düsseldorf)
- David Plank (Jg. 1992, aus Remscheid, GSV Düsseldorf)
- Robin Plank (Jg. 1995, aus Remscheid, GSV Düsseldorf)
- Marcel Rekus (Jg. 1997, aus Leverkusen, GTSV Essen)
- Dirk Zimmermann (Jg. 1964, aus Wuppertal, GSV Düsseldorf)
Golf
- Paul Neumann (9. Platz, Jg. 1987, aus Spremberg, GSV Bielefeld)
Leichtathletik
- Delia Gaede (4. Platz über 200 Meter, Jg. 1999, aus Köln, GTSV Essen)
- Hannah Peters (5. Platz Siebenkampf, Jg. 1999, aus Herne, GTSV Essen)
Marathon
- Thomas Eller (9. Platz, Jg. 1980, aus Essen, GTSV Essen)
Die Deaflympics fanden vom 1. bis 15. Mai 2022 im brasilianischen Caxias do Sul statt. 19 von insgesamt 74 Startern der deutschen Mannschaft kommen aus Nordrhein-Westfalen.
Seit mehr als 20 Jahren unterstützt die Sportstiftung NRW junge Leistungssportlerinnen und -sportler aus olympischen und paralympischen Disziplinen. Seit 2021 werden auch deaflympische Athletinnen und Athleten gefördert. Voraussetzung ist, dass sie für einen nordrhein-westfälischen Verein starten oder ihren Trainings- oder Lebensmittelpunkt in Nordrhein-Westfalen haben.
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Alles Murren half nichts. Mama ließ sich auf keine Kompromisse ein. Nur für den Geigenunterricht durfte Alexandra das Haus verlassen. Gerade der wäre verzichtbar gewesen. „Das war das einzige Mal, dass ich Hausarrest hatte“, braust es in ihr auf. Anstatt über Saiten hätte sie viel lieber über den See gestreichelt – zwar weniger zart, aber trotzdem gefühlvoll.
An den Wänden ihres früheren Kinderzimmers pappen verblasste Poster. Der Deutschland-Achter, Wale, ein Roboter. Die Gardinen sind noch dieselben. Der Rollentrainer ist neu. Er wird seinen Platz behalten dürfen. Alexandra renoviert gerade. Beim Gedanken an ihren Fauxpas von damals muss sie schuldbewusst grinsen. Ein Wortgefecht mit Mutter und Schwester hatte sie zur Stubenhockerin degradiert. Mit der Erinnerung erwacht jedoch auch leise Empörung: „Ich durfte vier Wochen vor meiner ersten Ruderergometer-Meisterschaft nicht trainieren.“ So tröstend ihre vielen Erfolge danach waren, dieses Gefühl der unerträglichen, machtlosen Untätigkeit hat die Sportlerin sorgsam konserviert. „Wenn ich mein Training ohne einen triftigen Grund nicht mache, habe ich immer ein schlechtes Gewissen“, sagt die 20-Jährige. Im Wochenplan stehen 13 Einheiten.
Ein Riemen, der Bände spricht
Ruderer sind Getriebene des ewigen Kampfs gegen das Laktat. Besonders viele Muskelgruppen sind einer besonders langanhaltenden Belastung ausgesetzt. Um ihre Körper zu wappnen, absolvieren Ruderer ein extrem hohes Trainingspensum. Während eines Wettkampfes über die olympischen 2.000 Meter quälen sich die Athletinnen gut sieben lange Minuten. „Man reizt seine Grenzen aus – das ist das Anspruchsvolle“, findet Alexandra. Es beeindruckt sie, wenn Athleten konstant Topleistungen abrufen, wie Emma Twigg, die neuseeländische Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Einer. Alex ist im Grunde selbst ein gutes Beispiel. In ihrer Wohnung wartet ein knapp drei Meter langer Riemen darauf, seinen Ehrenplatz über der Wohnzimmertür einzunehmen. Alex‘ Medaillen baumeln daran, dicht an dicht, chronologisch sortiert. Es sind 76.
Alexandra hat die wichtigsten Nachwuchspreise im deutschen Sport gewonnen. Mit 17 Jahren wurde sie Junioren-Weltmeisterin und anschließend zur DOSB-Juniorsportlerin des Jahres 2019 gewählt. 2021 gewann sie als frischgebackene U23-Weltmeisterin das Bürgervoting in NRW, das ihr den FELIX Newcomer-Award einbrachte. Sie gehört auch zu den Toptalenten von WestLotto. Fast wäre sie bei den Olympischen Spielen in Tokio gelandet. Eine Coronainfektion verhinderte das.
„Alex ist der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne“, sagt Frederike, die jüngere Schwester. „Schon früher, bei Fahrradtouren mit Papa, hat sie nie zugelassen, dass jemand vor ihr fuhr.“ Die Geschwister haben viele Jahre auf dem Hennesee trainiert. Auf den Rennradrouten im Hochsauerland, im Kraftraum, auf dem eintönigen Ergometer im Bootshaus des Ruderclubs Meschede. Der innere Schweinhund hat viele Niederlagen einstecken müssen. Frederike wurde Vize-Weltmeisterin mit dem Juniorinnen-Achter.
Täglich grüßt das Dreikäsehoch
„Ich halte Alex nicht für ein Ausnahmetalent“, wiegelt Sebastian Kleinsorgen ab. „Diesen Begriff benutzen zu viele. Es sind ihr Engagement und ihr Wille. Alex brachte von Anfang an die Motivation mit, zu arbeiten. Wenn es anfängt, weh zu tun, legt sie los.“ Trainer Kleinsorgen wurde schnell klar, dass er das Mädchen aus der Nachbarschaft wohl so schnell nicht mehr loswerden würde. Auf dem Straßenfest im Sommer 2013 handelte er mit ihr einen Deal aus: Er würde sie am Wochenende auf den Schultern herumtragen. Im Gegenzug sollte das elfeinhalbjährige Dreikäsehoch am Montag zum Rudertraining auf der Matte stehen. „Klar ist sie erstmal gekentert“, erzählt der Trainer. Für Kinder reichen zwei bis drei Einheiten pro Woche. Alex wollte bald jeden Tag.
Sebastian Kleinsorgen, Familienvater mit zwei Töchtern, arbeitet als Vermessungsingenieur bei der Bezirksregierung in Arnsberg. Er war am Bau des Henne-Boulevards beteiligt, der die Mescheder Innenstadt mit dem Stausee verbindet. Er vermaß die Wege, die ihm heute als Zufahrts- und Trainingsstrecken dienen. Den Rudertrainer gibt er ehrenamtlich, zweimal am Tag. Triezen müsse er seinen Schützling schon, betont er: „Zu Hause irgendwas anderes zu machen ist ja auch toll. Wir müssen uns jeden Tag aufraffen, den Cut finden und sagen: Jetzt ist der Spaß zu Ende, jetzt müssen wir wieder ran.“ Der Schweinehund ist gewieft. „An meinen Bürotagen tut Alex spätestens dann etwas, wenn sie weiß, dass ich auch was getan habe. Sonst hätte sie ja ein Minus im Trainingsprotokoll.“ Also spult Kleinsorgen morgens vor Dienstbeginn 30 Kilometer auf dem Rennrad ab, versendet Beweisfotos, Distanz- und Zeitangaben. Sein Equipment hat er im Büro deponiert. Mitgehangen, mitgefangen. „Wenn wir das nicht so machen würden, ginge großes Potenzial verloren“, meint der Trainer. Den Sport macht er gerne mit. Kleinsorgen ist Ergometer-Vizeweltmeister seiner Altersklasse.
Zwei Dickköpfe auf Augenhöhe
Beide sprechen stringent in der Wir-Form. Es ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auch Frederike hat sie miterlebt. Manchmal, sagt sie, könne man nicht richtig beschreiben, warum etwas gerade nicht funktioniert. Dann sei das enge Verhältnis fürs Gefühl unfassbar wichtig. „Alex kann ein Dickkopf sein“, so die Schwester. „Sie weiß, wann sie recht hat, und beharrt dann darauf. Sebastian aber auch.“ Konflikte vorprogrammiert? „Wir diskutieren und am Ende kommt etwas Besseres dabei heraus“, erklärt Alexandra. „Bei Basti kann ich sagen, was ich denke.“ Der sieht das Vertrauen seiner Athletin pragmatisch: „Ich schaue Alex in die Augen und weiß, was ich ihr am Nachmittag noch zumuten kann.“ Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Langes „Ö“
In der Mescheder Innenstadt, nahe der Ruhr, führt Hermann Föster in vierter Generation ein Elektrofachgeschäft: Interfunk Föster. Mit langen ‚Ö‘, erklärt Alex‘ Vater. Früher seien die Fösters einmal Förster gewesen. Er lächelt gewinnend: „Aber wir Hochsauerländer können kein ‚R‘ aussprechen.“
„Rudern ist hier kein Elitesport – man muss nicht mit dem Porsche am Bootshaus vorfahren. Jugendliche bekommen Zugang“, erklärt der Vater. Dass Alexandras Talent früh von der Sportstiftung NRW gefördert wurde, habe zusätzlich Druck rausgenommen. Der Ruderclub zählt etwa 150 Mitglieder, ein Drittel sind Aktive.
Hermann Föster stieg nach dem Abitur als Lehrling in das Familienunternehmen ein. Dieser Schritt stand damals außer Frage. „Es war eine glückliche Fügung, dass mir die Arbeit auch Spaß gemacht hat“, lächelt er. Seine Töchter sollen selbst bestimmen können, in welche Fußstapfen sie später treten. „Das Erste, was ich mir als Kind wirklich doll gewünscht habe, war ein Lego-Roboter“, sagt seine Älteste. „Technische Sachen liegen mir.“ Alex heimste beste Noten in Mathematik und Physik ein. Beruflich vorstellen kann sie sich vieles. Klar ist, dass noch nichts klar ist.
Frederike widmet sich inzwischen hauptsächlich ihrem Studium in Münster. Alex gefällt die Vorstellung gar nicht, Meschede zu verlassen. Nach ihrem Einser-Abitur schrieb sie sich an der örtlichen Fachhochschule für Elektrotechnik ein. Sport und Studium lassen sich dadurch gut miteinander vereinbaren.
Hausarrest am Hennesees
„Wenn ich den Einer nicht mehr fahren kann, wird es allerdings schwierig, in Meschede zu bleiben“, erklärt sie. Der Bundestrainer besetzt die Boote. Ist eine andere Ruderin im Einer stärker, bliebe Alex eine Kandidatin für den Zweier und den Vierer. In beiden Fällen würde sie mit ihren Partnerinnen am Stützpunkt Berlin trainieren. Dem Vierer werden die größten Medaillenchancen bei Olympischen Spielen eingeräumt.
Um in Meschede bleiben zu können, muss Alex den schnellsten Einer fahren. Doch gilt das auch umgekehrt? Wo endet der Horizont am Hennesee? Welcher Weg führt nach Paris? Wie viel „Hausarrest“ im Sauerland ist gut? Coach und Ruderin sind gleicher Meinung. Kleinsorgen: „Im Vierer ist zwar Wumms dahinter, aber Alex hat das Gefühl, das du brauchst, um einen schnellen Einer zu fahren. Den Einer beherrschen die wenigsten.“
Deutlich unter Tischkante
Alexandra fährt seit ihrem 14. Lebensjahr auf Bundeswettbewerben. 2021 erlebte sie die bisher größte Enttäuschung ihrer jungen Karriere. Im März kam überraschend das Tokio-Ticket in Reichweite, im April handelte sie sich Covid-19 ein. Das volle Programm. Bei der finalen Qualifikations-Regatta im Mai holte sie der Trainingsrückstand ein, nur Platz 6. „Wenn du auf Alex‘ Niveau zwei Wochen nichts machen kannst, musst du das zwei Monate aufholen“, erklärt Kleinsorgen. Trotzdem wurde es ein gutes Jahr. Noch bevor die Olympischen Spiele – ohne sie – eröffnet wurden, feiert Alex ein fulminantes Comeback, holte mit zweieinhalb Bootslängen Vorsprung Gold bei der U23-WM.
Zum Jahresabschluss dann der Erfolg bei der FELIX-Wahl. Eigentlich hatte sie die mit ihr nominierte Skeletoni Hannah Neise vorne erwartet. „Erst Newcomerin und dann Olympiagold – das passt. Das sehe ich bei mir noch weit weg“, gibt sich die Ruderin skeptisch. „Der Preis ist eine Ermutigung, dass man mir Ähnliches zutraut. Vielleicht unterschätze ich mich.“ Auf der Straße habe sie mal ein Postbote erkannt, erzählt sie und grinst. Auch Sebastian Kleinsorgen muss lächeln: „Ihre Erwartungen sind immer deutlich unter der Tischkante. Sie fiel aus allen Wolken, als die Bronzegewinnerin von Tokio, Magdalena Lobnig aus Österreich, im Trainingslager auf uns zukam und Alex mit Namen begrüßte. Wie – die kennt mich?“
„Etwas, was du nicht mit Geld bezahlen kannst“
Vorstellen wird sich Alexandra Föster nicht mehr müssen, wenn sie Paris erreicht. Zur Qualifikation braucht sie eine Top-Ten-Platzierung bei der Weltmeisterschaft 2023. Bei Olympia wünscht sie sich mindestens das B-Finale, in die Top 12. „Das Erreichen dieses Ziels im Einer ist gleichzusetzen mit einer Medaille im Vierer“, analysiert Trainer Kleinsorgen. Den Feinschliff wird sich die Athletin in Meschede holen. Das Boot, mit dem sie sich auf die Reise macht, ruht in einer Halle am Hennesee. Seinen Namen musste sie bei der Olympiaqualifikation in Luzern abknibbeln, weil der Schriftzug auf dem Bug bei hohem Wellengang Nachteile hätte bringen können. Alex hat ihr Boot „It’s my life“ getauft.
Am großen Esstisch von Familie Kleinsorgen ist immer ein Platz für Alexandra reserviert. Die Töchter krabbeln auf ihren Schoß. Alex hatte bei der Renovierung des Hauses mitgeholfen – ein eineinhalbjähriges Projekt neben dem Training. Maria Kleinsorgen rudert ebenfalls. „Sie ist unser größter Sponsor“, sagt ihr Mann. „Ohne ihr Verständnis stünden wir ganz schnell ganz doof da.“ Maria hat das große Ganze verstanden: „Du machst etwas mit, was du am Ende deines Lebens nicht mit Geld bezahlen kannst.“
STECKBRIEF ALEXANDRA FÖSTER
Ruderin (Einer), Jg. 2002, aus Meschede, Ruderclub Meschede,
Studentin der Elektrotechnik
Erfolge:
2021 1. Platz WM U23
2021 1. Platz WM U23 IndoorRowing
2020 2. Platz EM U23Platz Jun.-WM U19 IndoorRowing
2019 1. Platz Jun.-WM U19
2019 3. Platz EM U19
2019 1. Platz Jun.-WM IndoorRowing U19
2018 2. Platz Jun.-WM U19, Doppelvierer