Alles Murren half nichts. Mama ließ sich auf keine Kompromisse ein. Nur für den Geigenunterricht durfte Alexandra das Haus verlassen. Gerade der wäre verzichtbar gewesen. „Das war das einzige Mal, dass ich Hausarrest hatte“, braust es in ihr auf. Anstatt über Saiten hätte sie viel lieber über den See gestreichelt – zwar weniger zart, aber trotzdem gefühlvoll.
An den Wänden ihres früheren Kinderzimmers pappen verblasste Poster. Der Deutschland-Achter, Wale, ein Roboter. Die Gardinen sind noch dieselben. Der Rollentrainer ist neu. Er wird seinen Platz behalten dürfen. Alexandra renoviert gerade. Beim Gedanken an ihren Fauxpas von damals muss sie schuldbewusst grinsen. Ein Wortgefecht mit Mutter und Schwester hatte sie zur Stubenhockerin degradiert. Mit der Erinnerung erwacht jedoch auch leise Empörung: „Ich durfte vier Wochen vor meiner ersten Ruderergometer-Meisterschaft nicht trainieren.“ So tröstend ihre vielen Erfolge danach waren, dieses Gefühl der unerträglichen, machtlosen Untätigkeit hat die Sportlerin sorgsam konserviert. „Wenn ich mein Training ohne einen triftigen Grund nicht mache, habe ich immer ein schlechtes Gewissen“, sagt die 20-Jährige. Im Wochenplan stehen 13 Einheiten.
Ein Riemen, der Bände spricht
Ruderer sind Getriebene des ewigen Kampfs gegen das Laktat. Besonders viele Muskelgruppen sind einer besonders langanhaltenden Belastung ausgesetzt. Um ihre Körper zu wappnen, absolvieren Ruderer ein extrem hohes Trainingspensum. Während eines Wettkampfes über die olympischen 2.000 Meter quälen sich die Athletinnen gut sieben lange Minuten. „Man reizt seine Grenzen aus – das ist das Anspruchsvolle“, findet Alexandra. Es beeindruckt sie, wenn Athleten konstant Topleistungen abrufen, wie Emma Twigg, die neuseeländische Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Einer. Alex ist im Grunde selbst ein gutes Beispiel. In ihrer Wohnung wartet ein knapp drei Meter langer Riemen darauf, seinen Ehrenplatz über der Wohnzimmertür einzunehmen. Alex‘ Medaillen baumeln daran, dicht an dicht, chronologisch sortiert. Es sind 76.
Alexandra hat die wichtigsten Nachwuchspreise im deutschen Sport gewonnen. Mit 17 Jahren wurde sie Junioren-Weltmeisterin und anschließend zur DOSB-Juniorsportlerin des Jahres 2019 gewählt. 2021 gewann sie als frischgebackene U23-Weltmeisterin das Bürgervoting in NRW, das ihr den FELIX Newcomer-Award einbrachte. Sie gehört auch zu den Toptalenten von WestLotto. Fast wäre sie bei den Olympischen Spielen in Tokio gelandet. Eine Coronainfektion verhinderte das.
„Alex ist der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne“, sagt Frederike, die jüngere Schwester. „Schon früher, bei Fahrradtouren mit Papa, hat sie nie zugelassen, dass jemand vor ihr fuhr.“ Die Geschwister haben viele Jahre auf dem Hennesee trainiert. Auf den Rennradrouten im Hochsauerland, im Kraftraum, auf dem eintönigen Ergometer im Bootshaus des Ruderclubs Meschede. Der innere Schweinhund hat viele Niederlagen einstecken müssen. Frederike wurde Vize-Weltmeisterin mit dem Juniorinnen-Achter.
Täglich grüßt das Dreikäsehoch
„Ich halte Alex nicht für ein Ausnahmetalent“, wiegelt Sebastian Kleinsorgen ab. „Diesen Begriff benutzen zu viele. Es sind ihr Engagement und ihr Wille. Alex brachte von Anfang an die Motivation mit, zu arbeiten. Wenn es anfängt, weh zu tun, legt sie los.“ Trainer Kleinsorgen wurde schnell klar, dass er das Mädchen aus der Nachbarschaft wohl so schnell nicht mehr loswerden würde. Auf dem Straßenfest im Sommer 2013 handelte er mit ihr einen Deal aus: Er würde sie am Wochenende auf den Schultern herumtragen. Im Gegenzug sollte das elfeinhalbjährige Dreikäsehoch am Montag zum Rudertraining auf der Matte stehen. „Klar ist sie erstmal gekentert“, erzählt der Trainer. Für Kinder reichen zwei bis drei Einheiten pro Woche. Alex wollte bald jeden Tag.
Sebastian Kleinsorgen, Familienvater mit zwei Töchtern, arbeitet als Vermessungsingenieur bei der Bezirksregierung in Arnsberg. Er war am Bau des Henne-Boulevards beteiligt, der die Mescheder Innenstadt mit dem Stausee verbindet. Er vermaß die Wege, die ihm heute als Zufahrts- und Trainingsstrecken dienen. Den Rudertrainer gibt er ehrenamtlich, zweimal am Tag. Triezen müsse er seinen Schützling schon, betont er: „Zu Hause irgendwas anderes zu machen ist ja auch toll. Wir müssen uns jeden Tag aufraffen, den Cut finden und sagen: Jetzt ist der Spaß zu Ende, jetzt müssen wir wieder ran.“ Der Schweinehund ist gewieft. „An meinen Bürotagen tut Alex spätestens dann etwas, wenn sie weiß, dass ich auch was getan habe. Sonst hätte sie ja ein Minus im Trainingsprotokoll.“ Also spult Kleinsorgen morgens vor Dienstbeginn 30 Kilometer auf dem Rennrad ab, versendet Beweisfotos, Distanz- und Zeitangaben. Sein Equipment hat er im Büro deponiert. Mitgehangen, mitgefangen. „Wenn wir das nicht so machen würden, ginge großes Potenzial verloren“, meint der Trainer. Den Sport macht er gerne mit. Kleinsorgen ist Ergometer-Vizeweltmeister seiner Altersklasse.
Zwei Dickköpfe auf Augenhöhe
Beide sprechen stringent in der Wir-Form. Es ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auch Frederike hat sie miterlebt. Manchmal, sagt sie, könne man nicht richtig beschreiben, warum etwas gerade nicht funktioniert. Dann sei das enge Verhältnis fürs Gefühl unfassbar wichtig. „Alex kann ein Dickkopf sein“, so die Schwester. „Sie weiß, wann sie recht hat, und beharrt dann darauf. Sebastian aber auch.“ Konflikte vorprogrammiert? „Wir diskutieren und am Ende kommt etwas Besseres dabei heraus“, erklärt Alexandra. „Bei Basti kann ich sagen, was ich denke.“ Der sieht das Vertrauen seiner Athletin pragmatisch: „Ich schaue Alex in die Augen und weiß, was ich ihr am Nachmittag noch zumuten kann.“ Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Langes „Ö“
In der Mescheder Innenstadt, nahe der Ruhr, führt Hermann Föster in vierter Generation ein Elektrofachgeschäft: Interfunk Föster. Mit langen ‚Ö‘, erklärt Alex‘ Vater. Früher seien die Fösters einmal Förster gewesen. Er lächelt gewinnend: „Aber wir Hochsauerländer können kein ‚R‘ aussprechen.“
„Rudern ist hier kein Elitesport – man muss nicht mit dem Porsche am Bootshaus vorfahren. Jugendliche bekommen Zugang“, erklärt der Vater. Dass Alexandras Talent früh von der Sportstiftung NRW gefördert wurde, habe zusätzlich Druck rausgenommen. Der Ruderclub zählt etwa 150 Mitglieder, ein Drittel sind Aktive.
Hermann Föster stieg nach dem Abitur als Lehrling in das Familienunternehmen ein. Dieser Schritt stand damals außer Frage. „Es war eine glückliche Fügung, dass mir die Arbeit auch Spaß gemacht hat“, lächelt er. Seine Töchter sollen selbst bestimmen können, in welche Fußstapfen sie später treten. „Das Erste, was ich mir als Kind wirklich doll gewünscht habe, war ein Lego-Roboter“, sagt seine Älteste. „Technische Sachen liegen mir.“ Alex heimste beste Noten in Mathematik und Physik ein. Beruflich vorstellen kann sie sich vieles. Klar ist, dass noch nichts klar ist.
Frederike widmet sich inzwischen hauptsächlich ihrem Studium in Münster. Alex gefällt die Vorstellung gar nicht, Meschede zu verlassen. Nach ihrem Einser-Abitur schrieb sie sich an der örtlichen Fachhochschule für Elektrotechnik ein. Sport und Studium lassen sich dadurch gut miteinander vereinbaren.
Hausarrest am Hennesees
„Wenn ich den Einer nicht mehr fahren kann, wird es allerdings schwierig, in Meschede zu bleiben“, erklärt sie. Der Bundestrainer besetzt die Boote. Ist eine andere Ruderin im Einer stärker, bliebe Alex eine Kandidatin für den Zweier und den Vierer. In beiden Fällen würde sie mit ihren Partnerinnen am Stützpunkt Berlin trainieren. Dem Vierer werden die größten Medaillenchancen bei Olympischen Spielen eingeräumt.
Um in Meschede bleiben zu können, muss Alex den schnellsten Einer fahren. Doch gilt das auch umgekehrt? Wo endet der Horizont am Hennesee? Welcher Weg führt nach Paris? Wie viel „Hausarrest“ im Sauerland ist gut? Coach und Ruderin sind gleicher Meinung. Kleinsorgen: „Im Vierer ist zwar Wumms dahinter, aber Alex hat das Gefühl, das du brauchst, um einen schnellen Einer zu fahren. Den Einer beherrschen die wenigsten.“
Deutlich unter Tischkante
Alexandra fährt seit ihrem 14. Lebensjahr auf Bundeswettbewerben. 2021 erlebte sie die bisher größte Enttäuschung ihrer jungen Karriere. Im März kam überraschend das Tokio-Ticket in Reichweite, im April handelte sie sich Covid-19 ein. Das volle Programm. Bei der finalen Qualifikations-Regatta im Mai holte sie der Trainingsrückstand ein, nur Platz 6. „Wenn du auf Alex‘ Niveau zwei Wochen nichts machen kannst, musst du das zwei Monate aufholen“, erklärt Kleinsorgen. Trotzdem wurde es ein gutes Jahr. Noch bevor die Olympischen Spiele – ohne sie – eröffnet wurden, feiert Alex ein fulminantes Comeback, holte mit zweieinhalb Bootslängen Vorsprung Gold bei der U23-WM.
Zum Jahresabschluss dann der Erfolg bei der FELIX-Wahl. Eigentlich hatte sie die mit ihr nominierte Skeletoni Hannah Neise vorne erwartet. „Erst Newcomerin und dann Olympiagold – das passt. Das sehe ich bei mir noch weit weg“, gibt sich die Ruderin skeptisch. „Der Preis ist eine Ermutigung, dass man mir Ähnliches zutraut. Vielleicht unterschätze ich mich.“ Auf der Straße habe sie mal ein Postbote erkannt, erzählt sie und grinst. Auch Sebastian Kleinsorgen muss lächeln: „Ihre Erwartungen sind immer deutlich unter der Tischkante. Sie fiel aus allen Wolken, als die Bronzegewinnerin von Tokio, Magdalena Lobnig aus Österreich, im Trainingslager auf uns zukam und Alex mit Namen begrüßte. Wie – die kennt mich?“
„Etwas, was du nicht mit Geld bezahlen kannst“
Vorstellen wird sich Alexandra Föster nicht mehr müssen, wenn sie Paris erreicht. Zur Qualifikation braucht sie eine Top-Ten-Platzierung bei der Weltmeisterschaft 2023. Bei Olympia wünscht sie sich mindestens das B-Finale, in die Top 12. „Das Erreichen dieses Ziels im Einer ist gleichzusetzen mit einer Medaille im Vierer“, analysiert Trainer Kleinsorgen. Den Feinschliff wird sich die Athletin in Meschede holen. Das Boot, mit dem sie sich auf die Reise macht, ruht in einer Halle am Hennesee. Seinen Namen musste sie bei der Olympiaqualifikation in Luzern abknibbeln, weil der Schriftzug auf dem Bug bei hohem Wellengang Nachteile hätte bringen können. Alex hat ihr Boot „It’s my life“ getauft.
Am großen Esstisch von Familie Kleinsorgen ist immer ein Platz für Alexandra reserviert. Die Töchter krabbeln auf ihren Schoß. Alex hatte bei der Renovierung des Hauses mitgeholfen – ein eineinhalbjähriges Projekt neben dem Training. Maria Kleinsorgen rudert ebenfalls. „Sie ist unser größter Sponsor“, sagt ihr Mann. „Ohne ihr Verständnis stünden wir ganz schnell ganz doof da.“ Maria hat das große Ganze verstanden: „Du machst etwas mit, was du am Ende deines Lebens nicht mit Geld bezahlen kannst.“
STECKBRIEF ALEXANDRA FÖSTER
Ruderin (Einer), Jg. 2002, aus Meschede, Ruderclub Meschede,
Studentin der Elektrotechnik
Erfolge:
2021 1. Platz WM U23
2021 1. Platz WM U23 IndoorRowing
2020 2. Platz EM U23Platz Jun.-WM U19 IndoorRowing
2019 1. Platz Jun.-WM U19
2019 3. Platz EM U19
2019 1. Platz Jun.-WM IndoorRowing U19
2018 2. Platz Jun.-WM U19, Doppelvierer
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Ruderin, Praktikantin bei KPMG
Der Morgen graut am Mittag. Da sie eh schon wach sei, tippt Luisa in den Chat, könnten wir mit dem Interview direkt loslegen. An Amerikas Ostküste ist jetzt Frühstückszeit. Nordrhein-Westfalen ist sechs Stunden, also eine Mahlzeit, voraus. Erst spät, vor dem Zubettgehen, war die Interviewanfrage bei der Studentin eingetroffen. Aber bei Luisa geht es zackig.
„Du siehst Arbeit vor dir, dann nimmst du sie an“, verteidigt die 27-Jährige ihren Workflow. Diese Einstellung habe sie Zuhause vorgelebt bekommen. Weihnachten, Ostern, Erster Mai – im Gastronomiebetrieb der Familie Neerschulte aus dem emsländischen Lingen wurde immer gearbeitet. „Ich kenne meine Eltern nicht auf der Couch sitzend“, erzählt Luisa. Im Alter von zwölf Jahren hilft die Tochter bereits mit, Getränke auszuschenken. „Man musste sich als Kind auch mal Sachen verdienen. Es gab nicht alles geschenkt“, sagt die Ruderin vom ETUF Essen e. V. „Heute bin ich für diese Erziehung dankbar.“
Stipendium für prestigeträchtiges Ruderer
Nach Manhattan braucht Luisa eine knappe Autostunde über den Highway 95. Seit Anfang 2020 lebt sie so dicht am weltberühmten Geschäfts- und Finanzzentrum. Im angrenzenden US-Bundesstaat New Jersey befindet sich die Rutgers University, an der Luisa Betriebswirtschaftslehre studiert. Ein Sportlerstipendium deckt ihre Studienkosten vollständig. Ein US-Coach hatte ihr das Stipendium angeboten, die Bewerbung war dann Formsache. Amerikanische Colleges stehen in einem Rekrutierungswettbewerb um die besten Athletinnen und Athleten weltweit. Rudern ist dort eine der ältesten und prestigeträchtigsten Sportarten. Zum ersten Mal wurde Luisa nach dem Abitur über die sozialen Medien angeschrieben, ob sie sich nicht für ein „Scholarship“ bewerben wolle. Damals winkte sie ab.
„Ergo 1“ im Pumakäfig erkämpft
Als sie mit dem deutschen Team 2019 beim Windermere Cup in Seattle startet, flammt das Interesse neu auf. „Rudern“, erklärt Luisa, „genießt in den USA viel größere Wertschätzung. Alle sind positiv eingestellt und die Athleten feuern sich bei jedem Training gegenseitig an.“ Stipendiatin Luisa ist für den Achter ihrer Uni, die „Scarlet Knights“, startberechtigt und eine Leistungsträgerin. Rund 80 Ruderinnen kämpfen bei den Ergometer-Wettkämpfen dicht aneinandergereiht um die Plätze im Boot. „Im Sportcenter herrscht eine Luft wie im Pumakäfig“, erzählt die Studentin. Nur „Ergo 1“ steht direkt neben dem Ventilator. Es ist Luisas Platz. Sie fährt Workout für Workout die schnellsten Zeiten.
Es falle ihr hier leichter, in beiden Bereichen gut zu sein, erklärt die deutsche Studentin. Leistungssport und Studium seien besser aufeinander abgestimmt, die Dozenten kulanter. Die Noten setzen sich aus mehreren, kleineren Aufgaben zusammen, fast wie in der Schule. Luisas Notenschnitt beträgt 3,96. Im deutschen Zensursystem liegt sie umgerechnet bei 1,05 „Ich stelle hohe Ansprüche an mich“, sagt sie.
Luisa sucht die extreme Erfahrung
Die Coronapolitik der Regierung Donald Trumps zwingt Luisa kurz nach ihrer Ankunft in den USA wieder zur Heimkehr. Das Studium muss sie im Onlinemodus fortsetzen. Den ungeplanten Aufenthalt in Deutschland will sie dennoch optimal nutzen. Für die Semesterferien guckt sich Luisa ein dreimonatiges Praktikum bei KPMG aus. Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen ist Partner der Sportstiftung NRW. Über die Zwillingskarriere können Sportler dort während ihrer Karriere Berufserfahrung sammeln. „Wer dieses Angebot nicht annimmt, der ist selber schuld, findet Luisa. „Es ist von der Sportstiftung super organisiert und öffnet Sportlern, die hart arbeiten, jegliche Türen.“
Luisa arbeitet bei KPMG in der Abteilung „Gobal Transfer Pricing“ in Vollzeit. Parallel trainierte sie im Heimatort Lingen und belegte drei Sommerkurse an ihrer Uni: „Das war hart, weil die Kurse nach deutscher Zeit vorwiegend nachts stattfanden. Aber ich wollte diese extreme Erfahrung trotzdem machen. Deshalb habe ich auch bei KPMG immer wieder nach Aufgaben gefragt.“ Das Unternehmen lässt Luisa freie Hand, ihre Trainings- und Arbeitszeiten zu koordinieren.
Höchste Auszeichung für die deutsche Studentin
Durch die Corona-Pandemie wurden 2020 alle Wettkämpfe abgesagt. Die Rutgers University bot Luisa deshalb an, ihre Startberechtigung um ein Jahr zu verlängern. Der Coach musste sie nicht lange bitten. Mit Zugpferd Luisa gelingt dem Uni-Achter die Qualifikation für die US-Meisterschaften, wo das Team einen achtbaren fünften Platz erzielt. Luisa erhält die höchste persönliche Auszeichnung, den „All American – 1st Team“. Zudem ehrt die Universität sie mit dem „CRCA Student-Athlete Award“ für sehr gute sportliche und akademische Leistungen. „Hier war ich tatsächlich die einzige Nichtmuttersprachlerin, die das Glück hatte, diese Auszeichnung zu bekommen“, sagt Luisa.
Mit Master in den Anschlussjob
„Für mich hat es sich gelohnt, immer wieder mal ein bisschen mehr zu machen, als ich musste.“ Im Mai 2022 wird die Ruderin mit ihrem zweiten Masterabschluss nach Nordrhein-Westfalen zurückkehren. Sie hat gezeigt, dass ein Praktikum mit dem Leistungstraining vereinbar ist. Wer das Gegenteil behauptet, erntet ihr Unverständnis. „Das eine Praktikum hilft dir doch, das nächste zu bekommen. Warum sollte mich ein Unternehmen nach dem Studium ohne jegliche Praxiserfahrung von der Straße holen?“, argumentiert sie.
Diese Sorge ist Luisa los. Ihr Praktikum hatte Folgen. Im Herbst tritt Luisa bei KMPG in Düsseldorf eine 60-Prozent-Stelle an. Ein Tag Büro, zwei Tage Homeoffice – daneben bleibt genug Zeit, die sie mit ihrem NRW-Trainerteam am Essener Baldeneysee verbringen kann. Das, betont Luisa, sei übrigens mindestens genauso gut wie in den USA. „Ergo 1“ macht eine Kampfansage in Richtung Olympische Spiele in Paris. Ganz nach dem Motto: Du siehst Arbeit vor dir, dann nimmst du sie mit.
Steckbrief Luisa Neerschulte
Ruderin (Zweier), Jg. 1994, aus Lingen
Studentin Economics/Labour Management/HR
Erfolge:
2021 1. Platz DM (Großboot) im Doppelzweier, Doppelvierer und Mixed-Achter
2019 6. Platz Weltcup Finale C, (W2-)
Anmerkung: Vor Einführung des eigenen NRW-Sportstiftungs-Stipendiums im Oktober 2022 hat sich die Sportstiftung NRW als Co-Förderer im Rahmen des Deutschlandstipendiums engagiert (2018-2022). Damals entstand dieser Beitrag.
Seit Anfang 2021 kooperiert DSW21 mit der Sportstiftung NRW und unterstützt sieben junge Athletinnen und Athleten mit einem Deutschlandstipendium: Die Ruderer Sophie Oksche, Pia Greiten, John Heithoff und Leon Schandl sowie die Leichtathleten Verena Meisl, Nils Voigt und Lasse Funck. Mit ihnen sind zwei sehenswerte Filme entstanden.
„Das Stipendium ist eine große Wertschätzung für den Aufwand, den wir für unseren Sport betreiben“, sagt Ruderer Leon Schandl. Studium und Training müssen in 24 Stunden untergebracht werden. „Daneben bleibt nicht viel Zeit, um arbeiten zu gehen wie andere Studenten“, erklärt Sophie Oksche.
„Ich mache Leistungssport, weil ich jeden Tag besser werden und meine Grenzen ausloten will. Wir sind hier, um etwas zu bewegen.“ Hier, das ist für die vier Ruderer der Leistungsstützpunkt in Dortmund, wo auch der Deutschland-Achter trainiert. „Die Atmosphäre ist für ich noch immer super besonders“, sagt Pia Greiten und John Heithoff ergänzt: „Meine Mannschaft ist wie eine kleine zusätzliche Familie.“
Warum engagiert sich DSW21 für Athlet*innen?
Die Zusammenarbeit mit den Sportler*innen birgt Win-Win-Potenzial, sagt Harald Kraus, Arbeitsdirektor bei DSW21: „Zum einen werden wir damit der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht, die wir als kommunales Unternehmen ganz besonders haben. Aber wir betreiben auch Eigenmarketing und knüpfen Kontakte zu jungen Menschen, die möglicherweise unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zukunft sind. In der Unternehmensgruppe 21 haben wir für Platz und Aufgaben für motivierte junge Menschen mit den unterschiedlichsten Qualifikationen. Vielen ist die Bandbreite gar nicht bewusst.“
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Ruderer Robin,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei KMPG in Köln
Der durchschnittliche Meister ist wie ein offenes Geheimnis. Es gibt ihn nicht. Es ist ein unvereinbarer Widerspruch. Ruderer Robin Goeritz – Europameister U23 – kann das bestätigen. Vom Mittelmaß hat er sich weit abgesetzt. Die Aussage steht, sogar, wenn Robin seine sportlichen Leistungen ausklammert.
„Als Leistungssportler kann man mehr bieten als Durchschnitt und sich von der Masse abheben“, sagt er. Dass dies stets mit viel Mühe verbunden sei, so ordnet er ein, klingt jedoch bodenständig, nicht abgehoben. Robin trainiert, studiert und arbeitet in Köln. Er ist darauf erpicht, dass alles einträchtig funktioniert.
Neben dem Jurastudium jobbt Robin seit zwei Jahren in einer Kanzlei. Er nutze die Bühne beim Captains Day der Sportstiftung, um die Aufmerksamkeit der Community Wirtschaft & Leistungssport auf sich zu ziehen. KPMG sagte einen Praktikumsplatz zu. Beim Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen fiel Robin als versierter Jurastudent auf, bot Überdurchschnittliches. Mit seinem Vierer-Team plus Steuermann gewann er im September 2020 die Junioren-EM, bei KPMG im Alleingang den Senior Manager.
Das Praktikum endete mit einem Jobangebot. Robin wird wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Kapitalmarktrecht. „Ich habe Glück mit meinem Team. KPMG nimmt Rücksicht auf meine sportliche Karriere“, erklärt er. „Diesen Erfolg habe ich auch der Sportstiftung NRW zu verdanken.“ Robin lobt auch das Mentorenprogramm der Deutschen Sporthilfe, mit dessen Hilfe er ebenfalls Praktika fand. Sportlich war 2020 sein bislang erfolgreichstes Jahr. Wenige Klausuren trennen ihn noch von der Vorbereitung auf das Staatsexamen an der Uni Köln.
Was er geschafft hat, können andere auch, glaubt Robin: „Vielen Athleten fehlt der Kontakt an der richtigen Stelle.“ Robin hat ihn bei seinen Förderpartnern gefunden.
Bobfahrer Christopher,
Werkstudent bei Baker Tilly in Dortmund
„Wir arbeiten Sie gut ein. Hoffentlich sind Sie dann im Winter weg.“ Christopher Koch hat den empathischsten Chef, den er sich vorstellen kann. Seit seinem Vorstellungsgespräch fahren sie dieselbe Linie, fachsimpeln über Kufen, Kurven und Kanäle. Christopher ist Bob-Anschieber im ersten Jahr. Sein Vorgesetzter, Martin
Weinand, war ebenfalls Anschieber. Heute ist der Geschäftsmann Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Baker Tilly. „Er kann total nachvollziehen, welchen Aufwand ich betreiben muss“, erzählt der Nachwuchsathlet. „Mit einem normalen Arbeitsverhältnis ist meine Saison nicht vereinbar.
Ich bin von Oktober bis Februar unterwegs. Trotzdem muss ich meinen Einkaufswagen und den Tank voll bekommen. Ohne die Unterstützung meines Arbeitgebers würde das nicht gehen“, erklärt der Student der Ruhr-Uni Bochum. Geschäftsführer Weinand und Werkstudent Christopher haben einen Deal. Während der Bobsaison arbeitet Christopher mobil bei reduzierter Stundenzahl. Wenn im Frühjahr die Hochphase für die Wirtschaftsprüfer beginnt und die der Bobfahrer endet, steigt er am Unternehmenssitz Dortmund in Vollzeit ein.
„Baker Tilly gibt mir einen großen Vertrauensvorschuss. Wichtig ist, dass ich mit meinen Kollegen genau abspreche, wann ich wie viele Aufgaben erledigen kann“, erläutert Christopher. Eine Duale Karriere basiert auf solchen individuellen Lösungen zum Vorteil beider. Christopher machte in der WG Bekanntschaft mit ihr. Ex-Mitbewohner Philipp plauderte vom Captains Day, wo seine Duale Karriere begann. Der Sprinter ist ähnlich häufig auf Reisen. „Philipp meinte: Ruf bei der Sportstiftung NRW an. Die kümmern sich auf jeden Fall.“
Inzwischen rät auch Christopher: „Dieses Angebot sollte man wahrnehmen.“ Die Sportstiftung prüfte sein Motivationsschreiben für Baker Tilly „sehr schnell“ und „mit gutem Auge“. Mit der Bewerbungshilfe im Rücken fühlte er sich sicher.
Mit seiner Premierensaison 2020/21 und beim neuen Arbeitgeber ist Christopher „mega“ zufrieden: „Ich war gut in Form, durfte WM-Luft schnuppern und hatte meinen ersten Einsatz mit dem Zweierbob im Europacup. Das spornt mich an, in Zukunft noch eine Schippe draufzulegen.“ Im Unternehmen lobt Christopher den starken Bezug zu seinen Studienfächern. „Ich rechne Bilanzen nach und recherchiere Gesetzestexte – praktische Erfahrung bringt mich weiter.“
Mindestens zwei Jahre, solange er noch bei den Junioren starten darf, möchte Christopher bei Baker Tilly bleiben. „Ich bin finanziell abgesichert und man gibt mir die Chance, mich sportlich zu zeigen.“
Amalia hat Kaffee gekocht. Viel, sehr viel, habe sie in den letzten Wochen, nein, Monaten und Jahren getrunken, sagt sie und schenkt großzügig aus. Wir nehmen das Wochenende in Angriff. Ende Juli, Morgensonne, zwitschernde Vögel im Blätterdach. Neben uns parkt der Rolli. Amalia hat besser geschlafen, aber nicht gut und wieder nicht sehr viel. „Mein Schlafdefizit ist gewaltig“, stöhnt sie. Im Schnitt drei Stunden am Stück jede Nacht seit fast einem Jahr. Die kaputten Beine drangsalieren sie.
Wir graben unsere Zehen in feinen Sand, die Knöchel umspielt von warmen, schäumenden Wellen. Danach tapsen wir über dicke Kissen aus Moos. Es sind Glücksgefühle für die Füße, produziert in unseren Gedanken. Real würde die 29-Jährige kaum etwas davon spüren. Nichtsdestotrotz hat sie ihre „Bucket List“ abgearbeitet, alles zum letzten Mal „zu Fuß“ erlebt.
„Ich kann jetzt nicht mehr sagen, dass ich keine Angst habe,“ vertraut mir Amalia an. Am darauffolgenden Montagmorgen wird sie sich beide Unterschenkel amputieren lassen. Sie hofft, dass die Schmerzen mit ihnen verschwinden, und, so skurril es klingen mag, auf mehr Mobilität. Amalia liebt tanzen.
Ihre Leiden sind die Folge einer Bleivergiftung, die sie sich vor acht Jahren zuzog. Amalia war leidenschaftliche Triathletin. Die Erkrankung schwächte ihren gesamten Körper. Besonders die Nerven und Muskeln der unteren Extremitäten trugen bleibende Schäden davon.
Nach langer Reha sattelte sie 2019 auf Para Rudern um, stößt in den Nationalkader vor und arbeitet – keinen Deut weniger leidenschaftlich – an einer Paralympics-Teilnahme. Um in Sport und Studium leistungsfähig zu bleiben, hält sie die Schmerzmedikation gering und drückt ihre Beschwerden so gut es geht beiseite. 2020 zieht sie die Reißleine, als klar ist, dass Tokio um ein Jahr verschoben wird.
Geduld vs. Ehrgeiz
Nachts arbeitet der Kopf. Amalia surft durch das Internet, liest und hinterfragt alles, was sie finden kann. Acht Fachärzte kommen schließlich zu demselben Schluss, dass eine Amputation langfristig die beste Lösung für ihre Ziele ist. Amalia spreizt den Daumen und den kleinen Finger ihrer Hand ab. „Das hang-loose-Maß meines Vertrauensarztes“, erklärt sie. So viel wird abgetrennt, vom Knöchel bis Mitte der Schienbeine. Nicht zu viel, um Spielraum für Nachbesserungen zu haben und um beim Rudern genug Hebelwirkung entwickeln zu können. Die Kraft wird hauptsächlich über die Beine übertragen. Sie werden durch Prothesen ersetzt.
Amalia versucht sich mental zu wappnen. Der Minischritt vom Rolli auf die Toilette wird nach der Operation nicht mehr möglich sein. Mit Bettgymnastik will sie direkt im Krankenhaus loslegen: „Sit-ups gehen immer.“ Geduld ist nicht ihre Stärke. Amalia will jedoch achtsamer mit sich werden und bittet ihre engen Vertrauten um Unterstützung, wenn Ehrgeiz und Perfektionismus mit ihr durchgehen. Das Codewort lautet Schildkröte.
Ihre Füße verabschiedet Amalia schließlich mit Humor. Wer einmal einen Gipsverband hatte und Freunde mit einem Edding, weiß Bescheid. Am letzten Abend vor der OP sucht sie Entspannung im Kraftraum.
Ready to row!
Amalia hat Kekse gebacken. „Weihnachtliche Fitness-Cookies. Die zaubern ein Strahlen ins Gesicht“, grinst sie. Sie ist mit dem Rollstuhl gekommen, auch, um sich für die Unterstützung der Sportstiftung zu bedanken, die nie abriss. Ihre Stümpfe stecken in Linern. Diese Überzüge aus Silikon verbinden Stumpf mit Prothese. Sie habe keinerlei Phantomschmerzen, erzählt Amalia, fünf Monate nach der Operation. Und sie kann wieder schlafen.
Die ersten Wochen nach der Amputation verbrachte sie in ihrem kleinen Studentenzimmer, ermattet, die verbliebenen Beinstümpfe hochgelagert, aber glücklich mit ihrer Entscheidung. „Ich war mental schnell erschöpft und habe mich bewusst zurückgezogen – auch aus den sozialen Medien“, erzählt sie. „Die Ratschläge mancher Menschen, die glaubten mich belehren zu müssen, haben meinen Tank zu sehr geleert.“ Das Rudern ist täglich Gesprächsthema und zieht hoch. „Mein Sportlerherz schlägt weiter.“
Die ersten Schritte auf Prothesen macht Amalia bereits im September. Eine schwere Nervenverletzung an den Stümpfen wirft sie zurück, zudem stürzt sie viermal unglücklich auf die Wunde. Sie stürzt sich auch in die Reha. „Ich bin ja nicht neu in dem Business“, scherzt sie. Reha-Trainerin Anja Löhr am Olympiastützpunkt NRW/Rheinland „pusht“ die Athletin. Ihr hatte Amalia damals als Erste ihre Gedanken über die Amputation anvertraut. Amalia beginnt mit kurzen Spaziergängen in der Gehschule, zum Krafttraining darf sie im Dezember. Ein Weihnachtsgeschenk.
Anfang 2021 ist Amalia zurück auf der Regattabahn am Fühlinger See, dem Stützpunkt der Para Ruderer in NRW. Sie ist ein wichtiger Baustein des „2. zu 1. Liga“-Projekts. Weil ihre Prothesenfüße kein bewegliches Fußgelenk haben, müssen die Hebelkräfte so verlagert werden, dass sie ans Stemmbrett abgegeben werden. Wasserzeit und Trainingsumfang richten sich nach den Stümpfen. Eine Überbelastung will die Para Athletin nicht riskieren. Die Freude am Rudern ist jedoch zurück: „Ich liebe es, zu wissen, dass es immer besser geht“.
Und Tokio? Mit ihrem Doppelzweier-Partner Leopold Reimann kann sie sich im Mai noch qualifizieren. „Die Willenskraft ist auf jeden Fall vorhanden“, grinst Amalia. „Für Paris 2024 sowieso. Bremsen war noch nie meine Stärke.“ Der Plan mit der Amputation ist aufgegangen. Codewort Schildkröte existiert noch. Nicht nur im Boot gilt es, den richtigen Rhythmus beizubehalten.