Parasport Rudern

Fieser Fisch

Drei Jahre trank Amalia Sedlmayr unwissend vergiftetes Wasser. Die lange Leidenszeit schwächte ihren Körper beträchtlich, aber stählte ihren Willen. Aus einer ambitionierten Triathletin wurde eine aufstrebende Ruderin mit dem Ziel Paralympics.

23.08.2019 | Sebastian Burg
Pararuderin Amalia Sedlmayr vor der Pinnwand in ihrem Wohnheimzimmer

Der fiese Fisch ist im Labor untergetaucht. Die Wasserkaraffe hat Amalia aussortiert. Drei Jahre hauste der bunte, daumengroße Übeltäter in seinem gläsernen Unterschlupf. Tag für Tag, Schluck für Schluck infiltrierte er heimlich sein Gift in die Sportlerin. Der Fisch zwang Amalia ans Limit – körperlich, mental, moralisch. Unterkriegen ließ sich die 28-Jährige jedoch nie.

An einem Morgen im Dezember 2013 beginnt alles. Schier von jeglicher Kraft verlassen, knickt Amalia auf dem Weg in Bad ein. Sie kann sich kaum aufrecht halten. Muskelschmerz. Dabei steht Amalia eigentlich voll im Saft. Die Triathlon-Distanz bewältigt sie unter sieben Stunden. Die abendliche Joggingrunde taugt nicht als Erklärung für diesen Schmerz.

Im folgenden halben Jahr verliert Amalia 27 Kilo. Stress im Studium kann nicht die Ursache sein, ist sie sich sicher. In einem Kraftakt schleppt sich Amalia im Sommer zum Hausarzt. Der weist sie ins Krankenhaus ein. Nach drei Tagen im Rollstuhl will sie wieder aufstehen, aber ihre Beine tragen sie nicht mehr. Die Erkenntnis ist erschreckend irreal: „Ich kann nicht mehr gehen“.

Das eigene Ich wird immer fremder

Aber nicht nur ihr Körper baut sukzessive ab. „Mein Kopf war Gemüse“, erzählt Amalia. „Ich wurde vergesslich, war schnell reizbar und hatte Schwierigkeiten mit der Sprache. Mein Wortschatz schrumpfte.“ Eigentlich sind Sprachen ihr Ding. Das Portugiesische sog sie mit der Muttermilch auf, Spanisch und Englisch reiften durch Sprachreisen während ihrer Schulzeit. 2013 zog Amalia nach Heidelberg, um Übersetzungswissenschaften zu studieren. „Dolmetscher müssen im Kopf schnell schalten können“, weiß sie. Es fiel ihr leicht. Und jetzt das. Das eigene Ich wird Amalia zunehmend fremder. Wie konnte es soweit kommen?

Ein Fisch gehört ins Wasser, dachte sich Amalia, als sie vom Stadtfest „Heidelberger Herbst“ in ihre Studentenbude heimkehrt. Sie war frisch an der Uni. Das soeben auf dem Flohmarkt erworbene Schnäppchen machte in der Wasserkaraffe neben dem Bett dekorativ etwas her. Amalia und der Deko-Fisch hatten damit eine Gemeinsamkeit: Wasser ist ihr Element.

Im Alter von drei Jahren sprießt ihre Liebe zum Schwimmen. Das Mädchen paddelt bald zweimal wöchentlich im Schwimmzentrum der Deutschen Sporthochschule Köln. „Meine Mutter hat mich breit gefächert in alle möglichen Sportarten gefördert“, erzählt Amalia. Leichtathletik, Kunst- und Geräteturnen kommen hinzu. Ab der Grundschule verbringt sie jeden Wochentag an der „SpoHo“. Das Kind steckt voller Energie. „Damit ich abends Ruhe gab, musste ich mich tagsüber auspowern“, berichtet Amalia. „Ich habe mich dort immer wahnsinnig wohl gefühlt.“ Amalia macht fünf Jahre klassisches Ballett mit Auftritten im Kölner Gloria Theater. „Während dieser Zeit ist die Perfektionistin in mir gewachsen“, erklärt sie. Bis 16 trainiert sie zudem als Rettungsschwimmerin bei der DLRG.

Triathlon wird zur Leidenschaft

Mit 17 erzählt ihr Onkel „Joli“ aus Brasilien von seinem neuen Hobby, Triathlon. Amalia ist im Nu angefixt. Jolis bester Freund ist Joachim Doeding, zufällig der Top-Triathlet von São Paulo. Er wird ihr erster Trainer, der Triathlon ihre Leidenschaft. „Ich habe Spaß daran, mich mit anderen zu messen, aber vor allem mich selbst zu übertreffen. Meine Bestzeit zu übertreffen ist ein wunderbares Gefühl. Dabei erzielt man den größten Fortschritt“, sagt Amlaia. Der Triathlon habe sie mental auf das Leben vorbereitet und ihr gezeigt, dass sie erreichen kann, woran sie glaubt. „Irgendwann stellt den Körper auf den Maschinen-Modus.“

Neben dem Abitur stemmt die Schülerin jede Woche bis zu 38 Stunden Training. „Ich bewegte mich an der Grenze zum Leistungssport.“ Um ihren Sport zu finanzieren, arbeitet Amalia in einer Neurologischen Rehabilitationsklinik in Bonn. Sie hilft Parkinson-Patienten, Unfallopfern und Querschnittsgelähmten wieder mobil zu werden. „Es ist eine Ironie des Lebens, dass mich diese Erfahrung darauf vorbereitete, was später auf mich zukam“, sagt sie. „Ich habe von diesen Menschen gelernt, das Leben anzunehmen.“

„Sie hatten mich aufgegeben.“

Als Amalia 2013 selbst Patientin wird, gibt sie den Ärzten Rätsel auf. Amalia durchläuft einen Marathon an Fehldiagnosen. Knochenmark, Leber und das zentrale Nervensystem erleiden schwerwiegende Schäden. Von plötzlichen Krampfanfällen geschüttelt, kommt sie kaum aus dem Bett. Spasmen befallen Füße und Finger. Nach der zweiten Reha kommt zuhause prompt der Rückfall. Der Fisch in der Karaffe neben dem Bett hatte auf sie gewartet.

Nach der vierten Reha 2015 kann sie zehn Meter am Rollator laufen und gilt als „austherapiert“. Ein schlechter Witz für eine Triathletin. „Sie hatten mich aufgegeben.“

„Ich wollte mich von meiner Mutter verabschieden.“
Amalia Sedlmayr, im Krankenhaus 2015.

Am Tiefpunkt kommt die Wende

Es geht rapide bergab. Unerklärliche Bauchschmerzen rauben Amalia wochenlang den Schlaf. Die Ärzte diagnostizieren Knochenmarkfunktionsstörungen und Leberschäden, erkennen aber nicht die Ursache. „Ich bin nicht ängstlich und eigentlich sehr leidensfähig“, betont Amalia. Doch an diesem Tiefpunkt wollte sie nur raus aus der Klinik und zu ihrer Mutter. „Ich wollte mich von ihr verabschieden.“ Der Entwurf eines Testaments lag bereits in der Schublade.

Bei der erneuten stationären Aufnahme stellt ein Assistenzarzt fest, dass noch ein Test auf Schwermetalle im Blut aussteht. Es ist des Rätsels Lösung: Amalia hat seit drei Jahren eine schwere chronische Bleivergiftung.

Blei reichert sich in den Knochen anstelle von Calcium an. Eine dauerhafte tägliche Dosis schädigt das Nervensystem und führt zu Lähmungen. „Aus Blei“, erklärt Mutter Esta Maria ihrer Tochter am Telefon, „sind die kleinen Zylinder, die Angler an ihre Leinen heften, damit der Köder ins Wasser sinkt.“ Angler, Fische, Wasser – in Amalias Kopf schließt sich ein Kreis. Die Entgiftungskur dauert bis heute an. Tabletten ziehen das Blei langsam aus den Zellen.

Bildermemory statt Bachelor

Seit 2016 geht es bergauf, aber der Absturz war tief. Um ihren Studienabschluss kämpft Amalia zwei Jahre vergebens. Sie bekommt Sprachtherapie. Bildermemory statt Bachelor. „Wörter mit ‚ung‘ oder ‚sch‘ waren der Horror“, erinnert sie sich. „Ich sah das Wort, wusste, dass es ich falsch geschrieben hatte, erkannte aber nicht, wo der Fehler lag.“ Amalia kramt alte Sprachlernbücher aus ihrer Schulzeit heraus und wälzt sie zum zweiten Mal.

Auch das Internet wird zum Reha-Helfer. Beschränkt auf ihre zwölf Quadratmeter in Heidelberg recherchiert sie Kraft- und Koordinationsübungen. Jeden Tag trainiert sie in Eigenregie eineinhalb Stunden – zusätzlich zur Physiotherapie. „Ich träumte vom Joggen am Neckar“, sagt Amalia. Nach einem Jahr schafft sie es ohne Pausen 300 Meter mit dem Rollator zu gehen. 

„Verliere nicht den Mut!“

„Seit 2018 fühle ich mich wieder klar im Kopf“, sagt Amalia. „Auch, weil ich weniger Medikamente nehmen muss.“ Sie beginnt ein neues Studium an der Sporthochschule in Köln. Sie möchte Trainerin für Menschen mit Einschränkung werden, am liebsten im Schwimm- oder Rudersport. Denn: „In jungen Menschen steckt so viel Potenzial.“ Das Studium mache Spaß, sagt sie, „auch wenn ich im Weitsprung kürzer springe als in der Grundschule.“

Orthesen für die Füße ermöglichen ihr das Gehen. „Manchmal ärgere ich mich. Früher ging ich einfach mal mitten in der Nacht laufen, um den Kopf frei zu bekommen.“ Das geht nicht mehr. „Ich musste lernen, mein neues Ich anzuerkennen“, gibt die Studentin zu. In ihrem Zimmer im Wohnheim der Sporthochschule klebt ein mit bunten Farben vollgeschriebenes Tapetenstück. Die Pinnwand daneben ist gespickt mit Postkarten und Fotos. Alle Botschaften ihrer Freunde und Familie stoßen in das gleiche Horn: Verliere nicht den Mut!

Para statt Tri

Amalia trainiert eisern jeden Tag. Manchmal steht die Tür zum Hausflur offen, damit in den vier Wänden der Platz für ihre Übungen reicht. Oft nutzt sie die Möglichkeiten, die ihr der Olympiastützpunkt Rheinland in Köln bietet: den Kraftraum, die Physiotherapeuten oder die Ernährungsberatung. Amalia verfolgt inzwischen ein neues Ziel: die Ruderwettkämpfen bei den Paralympics. Doch viel wichtiger ist: Amalia ist wieder eine Athletin – mit einem vorangestellten „Para“ statt einem „Tri“.

Im Frühjahr 2019 betritt Amalia zum ersten Mal den Ruderkeller des RTHC Bayer Leverkusen. „Rudern ist wie Schwimmen eine sehr technische Sportart. Noch kann ich die richtige Rudertechnik nicht konstant abrufen“, unkt bereits wieder die Perfektionistin in ihr.

In der paralympischen Bootsklasse Mixed-Doppel-Zweier schnupperte Amalia im folgenden Sommer WM-Luft. Mit Schlagmann Marcus Klemp erreichte sie in Linz den dritten Platz im B-Finale. Eine hartnäckige Erkältung und Gegenwind verhinderten die direkte Qualifikation die Paralympics. Im Mai 2020 hätten die beiden letzten Tokio-Tickets vergeben werden sollen. Dann warf das Coronavirus alles durcheinander. „Die Chancen zur Qualifikation standen gut. Wir gehörten zu den Top Drei“, sagt Amalia. „Jetzt kann ich mich bis 2021 stärker verbessern. Bei mir ist noch viel Luft nach oben.“

Damit spätestens bei den Paralympics in Paris 2024 eine Medaille gelingt, sichert die Sportstiftung NRW die optimale Vorbereitung der Para-Ruderer durch einen Trainer am Standort Leverkusen finanziell ab.

Kein finanzieller Spielraum für Amalia. Die Sportstiftung ist zur Stelle

Neben wöchentlich 17 Stunden Fahrtzeit zum Training, langen Einheiten und ihrem Vollzeitstudium bleibt Amalia keine Zeit, um ihr BAföG aufzustocken. Mit diesem Einkommen würde kein Leistungsruderer annähernd auskommen“, erkennt die Sportstiftung NRW. „Solange Amalia Bedarf hat, sind wir deshalb mit unserer Basisförderung zur Stelle“, sagt Geschäftsführer Jürgen Brüggemann. Amalias Deutschlandstipendium ist Teil dieses „CARE-Pakets“, das man sich mit Leistung verdient.Die Sportstiftung ist in Sachen Förderung paralympischer Athleten der erste Ansprechpartner in NRW.

All in: Keine Angst vor Amputation

Die Fehlbelastung der Füße hinterlässt bei Amalia Spuren. Die Schmerzen werden unerträglich. Amalia quält sich durch die Tage und findet nachts keine Ruhe. Anfangs halfen Botox-Spritzen verkrampfte Muskelspasmen zu lähmen und zu zähmen. Nun verliert die Behandlung an Wirkung. Der ungeliebte Rollstuhl bekommt ein Comeback, doch Schmerzen und schlaflose Nächte bleiben. Durch Corona sei ihr bewusst geworden, dass ihr Wohl und somit eine OP Vorrang haben. „Danach kann ich ungebremst in die neuen Tokio-Saison starten“, hofft sie.

Der nächste Einschnitt kommt. „Mehrere Fachärzte sind mit mir zu dem Entschluss gekommen, dass eine beidseitige Amputation ab Höhe der Schienbeine die sicherere Lösung ist.“ Auf lange Sicht erwartet Amalia dadurch eine Linderung ihrer Schmerzen und weniger Folge-OPs, dafür aber – das ist ihr sehr wichtig – mehr Mobilität. Bei einer Fußgelenksversteifung wäre das anders. „All in oder gar nicht!“ Von Angst keine Spur: „Ich habe schon anderes geschafft und gehe das ja nicht alleine an. Ich fühle mich getragen von meinem Glauben, meinen Trainern, Physiotherapeuten, Freunden und von der Sportstiftung NRW.“

Fortsetzung folgt.

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