1358 Die Wiederauferstehung Marias

„Möchten Sie noch ein paar letzte Worte sagen?“, fragt der Narkosearzt. „Manche Patienten wünschen sich das.“ Maria überlegt. Sie hat verrückte Geschichten gehört, in denen Menschen Abschiedspartys für ihren Arm oder rituelle Bestattungen für ein Bein veranstalten. „Einfach weg“, schießt es ihr durch den Kopf. Ein letztes Mal blickt sie an sich herab, ans Ende des schmalen OP-Tischs, zu ihrem Fuß. Begeht sie gerade den größten Fehler ihres Lebens? Tränen brechen sich Bahn. Maria reißt sich zusammen: „Du hast es gut gemacht bis hierher. Aber jetzt reichts. Tschüss!“ Im nächsten Augenblick wirkt die Narkose. 

Ethischer Abfall 

Maria sah ihren linken Fuß nie wieder. Das deutsche Gesetz schreibt vor, dass amputierte Körperteile und herausgenommene Organe – sogenannter ethischer Abfall – verbrannt werden. Maria war das egal. Ihre Entscheidung für eine Amputation unterhalb des Knies richtet sich einzig in die Zukunft. Nur so würde sie die Chancen haben, wieder Fußball spielen zu können. Außenbahn bei der Eintracht aus Lindlar-Hohkeppel im Bergischen Land. Die Linie hoch und runter rennen. Wenn sie übersät mit Schrammen das Albertus-Magnus Gymnasium Bensberg betrat, wussten ihre damaligen Mitschüler, dass „Märri“ am Wochenende wieder auf Asche gegrätscht hatte. Nichts war wichtiger als das Kicken. 

„Mein eiserner Wille und der Glaube, bald wieder gegen den Ball zu treten, haben mir das Leben gerettet“, sagt die 30-jährige Overatherin. Heute ist das Kapitel Fußball jedoch abgeschlossen. Freiwillig. Maria hält nun den deutschen Rekord im 100-Meter-Sprint (13,64 Sekunden) und im Weitsprung (4,88 Meter in der Halle) – ohne Unterschenkel, dafür mit Sportprothese. Sie ist Leistungssportlerin, startet für den TSV Bayer 04 Leverkusen und springt und rennt bei den Europameisterschaften der Para-Leichtathleten um Medaillen für Deutschland. Die Sportstiftung NRW hat die Athletin längst auf dem Zettel. Vom Krankenhemd ins Nationaltrikot – eine aberwitzige, unglaubliche Wende. 

Filmriss

Der Juli 2015 war heiß. Marias orangefarbenes Motorrad hat vom „Kurvenwetzen“ ordentlich Durst. Auf dem Heimweg von einer Freundin in Hessen stoppt sie an einer Zapfsäule, tankt voll. Filmriss. Die Rotoren des Helikopters flattern ohrenbetäubend. „Rein mit ihr!“, ruft eine Männerstimme dumpf. „Geil, Heli fliegen“, denkt Maria aus ihrer Ohnmacht gerissen. Filmriss. „Dürfen wir das aufschneiden?“, fragt eine Frau im weißen Kittel. Die Bikerkluft soll runter und Maria dämmert: Irgendetwas muss mit mir geschehen sein. „Darf ich mal gucken?“ Filmriss. 

„Es ist ein Segen, dass ich keine Alpträume habe“, sagt Maria. Sie erinnert sich nur bruchstückhaft an den Unfall, bei dem ihr linker Fuß zwischen ihrem Motorrad und einem Auto eingeklemmt wurde. Schien- und Wadenbein waren glatt durchgebrochen. Die Schäden am Muskelgewebe waren zu groß, als dass die Ärzte sie hätten nähen können. Davon abgesehen blieb sie unverletzt. 

Von 100 auf 0 

Als Maria die Augen in der Universitätsklinik Marburg aufschlägt, stehen ihre Eltern Renate und Andreas am Fußende ihres Bettes. Noch 20-mal wird Maria in den folgenden 13 Monaten aus einer Narkose erwachen. Zunächst in Marburg, bald darauf in der BG Unfallklinik Frankfurt, wo führende Experten der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie arbeiten. Irgendwann entscheidet das Personal, Marias Namensschild am Bett nicht mehr abzunehmen. „In den beiden Wochen in Frankfurt wurde ich an jedem zweiten Tag operiert. Die Sportlerin ist ausgebremst, im Handumdrehen von 100 auf 0: „Ich konnte mich nicht alleine anziehen, nicht allein trinken oder mich aufsetzen. Ich war hilflos und von anderen extrem abhängig.“ Trotzdem rechnet Maria fest damit, nach der Winterpause wieder in der Liga aufzulaufen. 

Gute Nachrichten sind lange Zeit Mangelware. Nichts will wie es soll. Die Ärzte transplantieren Muskelgewebe vom rechten Oberschenkel auf den linken Unterschenkel, müssen jedoch mit einer Notoperation während dieser Operation alles rückgängig machen. Unerklärliche Durchblutungsstörungen beschwören einen lebensgefährlichen Gefäßverschluss herauf. 

„Äußerlich wirkte Maria gewohnt stark, klar und gefasst. Das war angesichts ihres körperlichen Zustandes einfach unglaublich“, erinnert sich Sarah Schreiner, damals Kapitänin bei Eintracht Hohkeppel. „Die Mädels waren sehr beeindruckt, wie Maria immer wieder die Kraft für immer neue OPs aufwenden konnte und dabei den Mut nicht verlor.“ 

Nächster Anlauf: Maria opfert Teile des großen Rückenmuskels, um die offenen Wunden zu kitten. Das legt ihren rechten Arm zwischenzeitlich lahm, bewirkt am Fuß jedoch keinen Erfolg. „Der Körper heilt von außen nach innen“, erklären ihr die Ärzte. Die Haut muss anwachsen, damit der Knochen heilt. Tut sie aber nicht. Auch der Mittelfußknochen des großen Zehs muss entfernt werden, bevor er mangels Durchblutung abstirbt. Beim Gehen rollt der Fuß über eben diesen Knochen ab. Durch die monatelange Ruhigstellung in gestreckter Position bildet sich ein extremer Spitzfuß. Die Ärzte reagieren ausweichend auf Marias Frage, ob sie jemals wieder normal gehen können wird. Im Oktober bekommt Maria eine Orthese, mit der sie immerhin auftreten darf. 

“Ich war in meiner persönlichen Hölle.“
Maria, sechs Monate nach ihrem Unfall

A wie Amputation

Im Dezember, ein halbes Jahr nach dem Unfall, konfrontiert ein Doktor Maria mit ihrer Zukunft. Option A lautet Amputation. Zu Option B erklärt er: „Mit einem versteiften Sprunggelenk werden Sie ein sportliches aktives Leben führen können“. Er meint Treppensteigen. Maria denkt ans Grätschen, Flanken und Schießen. Zweikämpfe führen. Das Spiel des Gegners zerstören – nicht selbst zerstört sein. Zwischen diesen Vorstellungen liegen Welten. „Niemals hätte ich gedacht, dass man sich so verloren und hilflos fühlen könnte“, erzählt sie. „Ich war in meiner persönlichen Hölle und wollte keinesfalls, dass irgendwer mitbekommt, wie schlecht es mir ging.“

Ein Vorgeschmack auf Olympia-Gold 

Maria bleibt die Flucht in den Alltag. Der heißt Uni. An der TH Köln besucht Maria einen Gastvortrag von Para-Leichtathlet David Behre. Er beschreibt, wie er bei einem Unfall beide Unterschenkel verlor und dennoch Leistungssportler wurde: mit kleinen Etappenzielen, einer gehörigen Portion Wille und Selbstvertrauen. Als Behre seine paralympische Goldmedaille durch die Reihen reicht, drückt Marias Dozentin ab. „Wenn es bei dir soweit ist, werde ich die Erste sein, die ein Foto von dir und deiner Goldmedaille hat“, kommentiert sie grinsend. Na, klar. Maria hat bisher noch keine Woche ohne ihre Gehstützen bewältigt. Doch der Prozess hat begonnen. Zuerst ist es nur ein Gefühl, bislang möglicherweise auf dem falschen Pfad unterwegs zu sein. Dann reift ein Gedanke, unterbewusst, der aber nicht mehr verfliegen will. Schließlich stößt er das Tor zu Maria Bewusstsein auf: Nur eine Amputation bringt mich zurück zum Fußball. 

Eineinhalb Beine 

Maria bekommt Kontakt zu Markus Rehm. Er ist einer der erfolgreichsten Para-Leichtathleten Deutschlands. Rehm stand ohne Unterschenkel bei der EM, der WM und den Paralympics ganz oben auf dem Podest. „Von seinen Erfolgen wusste ich damals noch nichts. Mir ging es mehr um das normale Leben“, sagt Maria. Rehms Erfahrungen machen Mut. Eine Prothese bedeute kaum Abstriche des Bewegungsspielraums, erfährt sie. „Trotz der grandiosen Arbeit meiner Ärzte bröckelte das Vertrauen in meinen Fuß. Er wäre nur noch zum Stehen da gewesen – für immer.“ 

Der Gedanke, auf eineinhalb Beinen durch das Leben zu gehen, plagt. Würde sie tatsächlich gehen und rennen oder humpeln? Wie soll ein Mensch so etwas Endgültiges entscheiden? Das Frühjahr kommt und Maria ringt unentwegt mit sich. „Ich will später niemandem die Schuld in die Schuhe schieben, wenn ich unglücklich bin“, erzählte sie Freundin Kerstin, nahe der Verzweiflung. Diese hüllt sich in Schweigen, doch vom Zuhören ist ihr klar, dass die Entscheidung bereits gefallen ist. Auf dem Nachhauseweg begreift Maria schließlich, was sie selbst eigentlich will. 

Ostern – Anruf – Alles gut 

Während der Ostertage vertraut Märri die Entscheidung ihrer langjährigen Schulfreundin Sabrina an. Es fühlt sich gut an. Keine Frage nach dem Warum, kein Zweifler wirft ihre Überzeugung um. Maria wählt die Nummer der Klinik und vereinbart einen Termin. Ihre Eltern informiert sie erst danach. 

Das Erwachen aus der Narkose ist dieses Mal keine Routine. „Ich hatte tierische Angst vor meiner Reaktion, wenn ich die Bettdecke aufschlage“, erzählt Maria. Doch nichts geschieht, keine Fünkchen Reue. Es war genau richtig so. „Ich wusste einfach, dass jetzt alles gut wird.“ 

Kaum einen Monat nach der Amputation nimmt Maria Tuchfühlung mit dem Ball auf. Sie fährt mit auf Mannschaftstour nach Holland, trotz starker Schmerzmittel. Insgesamt nimmt sie ein Jahr, zwei Monate, drei Wochen und fünf Tage lang Medikamente ein. Auch als Zuschauerin verpasst sie kein Spiel ihrer Mädels: „Manchmal war es die größte Qual. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als wieder dieses gelbe Trikot zu tragen. In solchen Momenten zerriss es mich innerlich.“ Ihr Körper diktiert unmissverständlich, wo es entlang geht. „Grenzen zu haben ist mir zuwider.“ 

Rückschläge bleiben auch nach der Amputation nicht aus. Entzündungen und Blutblasen an ihrem Beinstumpf werfen den Regenerationsprozess zurück. Das ist weder sonderlich ungewöhnlich noch dramatisch. Doch Marias Energie ist fast erschöpft „Ich hatte keine Kraft mehr nach vorn zu sehen. Womit hatte ich das verdient? Mein Optimismus hatte mich verlassen. Alle guten Worte halfen nichts.“ Auch solche düsteren Tage vergehen. 

Wollt ihr mit mir gehen? 

Über ein Jahr sind Marias Beine inzwischen nicht mehr miteinander gegangen. Ihre Reha-Betreuer soufflieren ihr über Wochen immer wieder haarklein den Bewegungsablauf, während Maria sich mit der einfachsten Form der menschlichen Fortbewegung abmüht. Muskeln, die es gewohnt sind, viel zu leisten, lassen sich schneller wieder aufbauen. Immerhin. „Frei auf zwei Beinen zu laufen ist was Wunderbares! Das war mir nie bewusst“, erkennt die Sportlerin. Eine viertägige Wanderung über 100 Kilometer auf dem Bergischen Panoramasteig geht am Ende der Reha als gelungener Härtetest in ihr Tagebuch ein. 

Im Juni 2017, gut zwei Jahre nach Tag X, gelingt ihr die Rückkehr auf den heiligen Rasen. Beim Freundschaftsspiel hütet Maria das Tor und ist überglücklich. Nach dem Abpfiff bricht sie im Auto hemmungslos in Freudentränen aus. Sie hat tatsächlich wieder richtig Fußball gespielt. 

Laufen und nicht gehen 

Um fitter zu werden und um ihre Leistungsfähigkeit mit der Prothese zu steigern, holt sich Maria Tipps bei Spezialisten am Leichtathletikstützpunkt in Leverkusen. Maria war gekommen, um schnellstmöglich zu laufen. Doch dann ließ man sie nicht gehen. „Meine Trainer haben irgendein Talent in mir gesehen. Schnell war ich ja schon immer“, erklärt sie. „Es macht mir Spaß neue Bewegungsläufe zu lernen.“ Mehr Spaß als sie sich anfangs eingesteht. Sogar mehr als Fußballspielen? 

Bei den Deutschen Hallenmeisterschaften der Para-Leichtathleten 2018 gewinnt die Overatherin ihre erste Medaille: Bronze im Weitsprung. Mit Eintracht Hohkeppel steht sie kurz vor dem Aufstieg in die Mittelrheinliga – die vierthöchste deutsche Spielklasse im Frauenfußball. Maria arbeitet parallel an zwei Baustellen, sie trainiert „wie die Sau“, lobt Eintracht-Coach Leo. Ihr Status für die Mannschaft ist jedoch nicht mehr derselbe. Allmählich beginnt sie zu begreifen, dass ihre Prothese immer eine Schwachstelle bleiben wird, insbesondere in einer stärkeren Liga. Daran ändert noch so viel Training nichts. Zudem spürt Maria jeden Schuss am nächsten Tag im rechten Oberschenkel und in der Leiste. 

Alte Stiefel, neues Trikot

Auf der anderen Seite winkt die Chance, sich für die Para-Nationalmannschaft zu empfehlen. Im weiten Stadionrund von Brüssel steht die Qualifikation für die Europameisterschaften an. „Du trittst auf die Tartanbahn und wirst von diesem Gefühl durchflutet: Hier gehöre ich hin“, berichtet Maria. Es ist der vielleicht entscheidende Kick. Im April 2018 hängt sie ihre heißgeliebten Kickstiefel an den Nagel. 

Maria verbringt jetzt mehr Zeit im Stadion als in der Uni, im Büro und in ihrem Wohnzimmer zusammen. Das Leichtathletiktraining vereinnahmt die Tage. Mit der Sportstiftung NRW hat sie nun einen Unterstützer an der Seite. Die Stiftung fördert landesweit die sportliche und die berufliche Karriere paralympischer Athleten. Drei Jahre sind nach dem Unfall verstrichen, da bekommt Maria Post. Auf ihren neuen Trikots steht nun Germany statt Hohkeppel. Von jetzt auf gleich, von 0 auf 100. 

Im Vereinsheim der Eintracht zapft Papa Andreas Bier hinter dem Tresen und brüht Kaffee auf. Draußen läuft das Training der Damenmannschaft. Der Abstieg aus der Mittelrheinliga droht. Maria sitzt an einem kippelnden Holztisch. „Ich bereue nichts“, betont sie, nachdem sie ihre ganze Freuden- und Leidensgeschichte erzählt hat. „Aber“, Tränen steigen ihr in die Augen, „ich wünschte, meine Eltern hätten diese Erfahrung mit mir nicht durchmachen müssen.“ 

Schöne Motorräder ziehen noch immer Marias Blicke auf sich. Zu mehr lässt sie sich nicht hinreißen, auch ihrer Eltern wegen. „Ich bin mit der Leichtathletik voll ausgelastet, ich käme sowieso nicht zum Motorradfahren.“ Marias Ziel sind die Paralympischen Spiele in Tokio. Im Fokus hat sie den Weitsprung und die 200 Meter. Um dabei zu sein, muss sie zum Stichtag auf Weltranglistenplatz sechs stehen. Das sei realistisch, sagen ihre Trainer. Maria lächelt. „Der Sport ist eine einzige Erfolgsgeschichte.“ 

Update:

Maria Tietze wurde am 24. Mai 1989 in Berlin geboren. Für die Leichtathletik zog sie von Overath nach Leverkusen. Sie trainiert Weitsprung und den 200-Meter-Sprint. 2019 wurde sie Deutsche Meisterin in 29,32 Sekunden (PB 28,59 Sec.) und stellte einen deutschen Hallenrekord über 4,88 Meter auf. 2018 gelangen ihr ein 4. Platz im Weitsprung bei der EM und Platz fünf über 200 Meter. 

An der TH Köln schloss sie ein Studium zur Konferenzdolmetscherin ab. Im Alter von 10 Jahren begann Maria bei der TuS Immekeppel mit dem Fußball, wechselte später zu Eintracht Hoheppel. „Ich sagte Klassenfahrten ab und legte den Urlaub nach den Spieltagen.“ Selbst Auslandsaufenthalte wählte sie so, dass sie immer Fußball spielen konnte: in Neuseeland (11. Klasse), auf dem Inselstaat La Réunion und in England (beides während des Studiums). „Ich nahm dafür selbst eine Mädchenschule mit Uniformpflicht in Kauf.“

T64 bezeichnet eine Startklasse von Para-Leichtathleten in Lauf- und Sprungwettbewerben. Das „T“ steht für Track. 64 verrät, dass dem Sportler der Unterschenkel fehlt – wie bei Maria. 

„Ich bereue nichts.“
Maria Tietze, Deutsche Rekordhalterin über 100 m (13,64 sec)
Paraleichtathletin Marie Tietze sitzend auf der Laufbahn, 100 Meter Marke Categories: Story | Comments
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