Hinter der Attahöhle macht die Bigge drei Schlenker, dann passiert sie ein abgeschiedenes Forsthaus. Eine Stauanlage lässt den Pegel dort mehrere Meter anschwellen. Gefährliche Strömungen können entstehen. Wegen dieser Nähe zum Wasserbringen Fabians Eltern ihren drei Söhnen früh das Schwimmen bei. Wald und Wiesen ringsum sind Spielplatz der Brüder. Der Vater ist Förster, die Mutter Ärztin. Besonders dem mittleren Sprössling gilt ihre Sorge. Fabian erlitt als Säugling einen Schlaganfall. Seitdem ist er halbseitig gelähmt (sogenannte Hemiparese). Mit der rechten Hand kann er nicht greifen, den Arm kaum benutzen, den rechten Fuß nicht strecken. Fabian rutscht ein einziges Mal versehentlich ins Wasser. Viele Male steckt jedoch volle Absicht dahinter.
„Als Kind habe ich oft Wörter verschluckt oder einfach vergessen“, erzählt Fabian. Wenn er nervös sei, gehe ihm das heute noch so. Der Schlaganfall verletzte Nervenverbindungen in der linken Gehirnhälfte, wo sich das Sprachzentrum befindet. Fabian behält eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Er tut sich schwer, Anschluss bei seinen Schulkameraden zu finden. Er wird scheu, ist schnell verunsichert, manchmal fühlt er sich gemobbt. Das Leben spielt sich überwiegend im Kreis der Familie ab. Fabian beschreibt seine Schulzeit als emotional belastend: „Behinderung und Pubertät sind erst recht schwierig miteinander zu vereinbaren. Ich hatte Angst vor Öffentlichkeit.“
„Fintos“ einsame Bahnen
Beim Schwimmen kann Fabian abtauchen. Sein älterer Bruder zieht ihn mit. Bald schwimmen beide leistungsorientiert. Doch nur Fabian hält an diesem Kurs fest. Mit zwölf Jahren wird er in den paralympischen Landeskader berufen. Die Eltern fahren ihn einmal pro Woche zum Training nach Köln. Bei einem Kaderlehrgang lernt er Jan aus Wuppertal kennen. Jan fehlt ein Teil des Arms. Die beiden teilen sich im Trainingslager ein Zimmer, werden beste Freunde. Zu Hause im Sauerland wechselt Fabian den Verein, geht ins benachbarte Finnentrop und springt mit 14 Jahren, wenn er kann, jeden Tag ins Becken. Er besorgt sich einen Schlüssel für das „Finto“. Wenn die Badegeäste nach Hause gehen, hat er die Bahnen für sich. Von neun bis halb zwölf. Ganz allein. Die tägliche Routine zieht er durch, bis die Corona-Pandemie den Betrieb lahmlegt.
Nach dem Realschulabschluss beginnt Fabian eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Er sagt: „Ich bin meiner Mutter extrem dankbar, dass sie damals der Empfehlung mich auf eine Sonderschule zu schicken, nicht gefolgt ist.“ In der Berufsschule ist er mit 16 Jahren der Jüngste. Die Mitschüler haben keine Kontaktscheu: Wann seine Wettkämpfe stattfinden würden und wo man ihn im Internet verfolgen könne, wollen sie wissen. Fabian ist irritiert: „Das war das erste Mal, dass jemand Interesse an mir zeigte. Damit konnte ich nicht umgehen. Ich habe mich immer rausgeredet, wenn die anderen etwas unternehmen wollten.“
Bei der Europameisterschaft 2018 schwimmt Fabian in seiner Paradedisziplin 100 Meter Rücken zur Silbermedaille. Im Jahr darauf wird er Sechster bei der Weltmeisterschaft. Der Sport treibt ihn an, zugleich reibt es den Teen auf: das späte Training, häufige Trainerwechsel, das Auf-sich-gestellt-sein, dann Corona. Die Stressfaktoren mehren sich. „Ich war extrem erschöpft und zunehmend lustlos“, schildert der Schwimmer. „Ich musste etwas ändern.“
Wuppertal macht „weiche Knie“, aber verknüpft zwei Ziele
Fabian erhält Angebote aus Potsdam und Wuppertal. Seine Wahl fällt auf das Bergische, wo die Sportstiftung und der Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen (BRSNW) einen paralympischen Trainingsstützpunkt aufbauen. Fabian kann dort sportliche und berufliche Ziele verknüpfen. Die Sportstiftung holt den Athleten und die Bayer AG an einen Tisch. Das Pharmaunternehmen lernt einen zielstrebigen jungen Mann kennen, der bereit ist, seinen Lebensmittelpunkt in Wuppertal aufzubauen, und dem das berufliche Standbein genauso wichtig ist wie der Leistungssport. Fabian zeigt seine Qualitäten als Administrator in einem Schulungszentrum. Halbtags unterstützt er Bayer-Mitarbeiter bei ihrem nächsten Karriereschritt, morgens und abends trainiert er für die Paralympics-Teilnahme.
Kopfmensch macht Kopfzerbrechen
Die erste eigene Wohnung findet Fabian fußläufig zur Schwimmhalle. Kumpel Jan wohnt zwar ebenfalls in Wuppertal, aber das Abnabeln von der Heimat fällt ihm schwer. „Fabian hatte vor dem Umzug weiche Knie“, sagt Mitja Zastrow. Zastrow – Zwei-Meter-Hüne, Olympionike mit Silber über 4×100 m Freistil (Athen 2004) – wird Anfang 2021 von der Sportstiftung und dem BRSNW als Landestrainer Para Schwimmen eingesetzt. „Mitja ist meine erste Bezugsperson. Wir haben die gleichen Ziele. Er ist für mich ein Halt“, sagt Fabian. Zastrow hat schnell erkannt: „Fabian ist der totale Kopfmensch. Er macht sich über alles Gedanken, was nicht gerade hilft, sich auf das zu konzentrieren, was gerade wichtig ist.“ Wenn die Stressfaktoren zunehmen, gibt Zastrow den Gegenpol. „Als Trainer bist du Elternteil, Onkel, Freund, Vertrauensperson – der Ersatz für viele Rollen im Leben der Sportler“, erklärt er. „Für Fabi ist es super, hier in Wuppertal auch nichtbehinderte Trainingspartner zu haben. Er schwimmt im Training zwar hinterher, aber er hat Leute, mit denen er in den Pausen auch mal quatschen kann.“
„Ich sehe nur Lösungen“
Noch zu wenige Para Athleten seien bereit, Fabians Beispiel zu folgen, obwohl sie jede Unterstützung bekommen würden, so der Coach: „Ich zerbreche mir jeden Tag den Kopf darüber, wie ich Fabi besser machen kann.“ Die Infrastruktur ist vorhanden. Zastrow will sich für mehr Aufklärung bei Nachwuchstalenten und Eltern einsetzen – in ganz NRW, aber vor allem im Einzugsgebiet von Wuppertal. „Ich sehe immer nur Lösungen“, sagt er und beschreibt eine: „Eltern könnten die Kinder morgens zum Training bringen, anschließend gehen sie hier zur Schule, bekommen im Teilzeitinternat Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung, können zur Physiotherapie gehen und danach wieder zum Training.“
Fabian trainiert achtmal pro Woche. Gerade lernt er eine neue Technik, die ihm besseren Vortrieb verleiht. Mit der alten schwimmt er eine „Einsneunzehn“ über 100 Meter Rücken. Das genügte nicht für den Finallauf bei den Paralympics in Tokio. Die Umstellung ist ein langer Prozess. „Man wünscht sich, dass es in zwei Wochen klappt, aber es ist halt zwei bis drei Jahre harte Arbeit. Klar, am Anfang sind meine Zeiten erst einmal schlechter“, weiß Fabian.
Wuppertal wertschätzen lernen
„Im Para Sport musst du viel ausprobieren“, sagt sein Trainer. Jede Behinderung erfordert eine eigene Technik. Selbst Para Sportler mit einer Hemiparese, sind trotz identischer Diagnose nicht zwangsläufig vergleichbar. Fabian: „An manchen Tagen ist die Spastik drin, an manchen fühle ich mich gut im Wasser.“
Die nächsten Paralympics finden in zwei Jahren in Paris statt. „Erfolge kommen und gehen“, philosophiert Fabian. „Ich genieße sie natürlich, aber sie sind nicht mein größter Ansporn. Viel wichtiger ist mir, zu zeigen, dass man trotz Problemen Ziele und Erfolge erreichen kann. Jüngere Schwimmer können die Chance, im Behindertensport groß rauszukommen, die Wuppertal bietet, noch nicht wertschätzen. Ich konnte jedenfalls nicht einfach sausen lassen, was die Sportstiftung für mich getan hat.“
Fabian lebt inzwischen in einer WG zusammen mit anderen Schwimmern. Er ist der Älteste, und wenn er im Kühlschrank abgelaufene Lebensmittel entdeckt, weist er seine Mitbewohner ohne Scheu auch mal zurecht. Die Rolle als Vorbild hat er längst angenommen.
STECKBRIEF FABIAN BRUNE
Para Schwimmer, Jg. 2000, aus Attendorn,
SV Bayer Wuppertal, Startklasse S6 / SB6 / SM6,
Groß- und Außenhandelskaufmann
Erfolge:
2021 5. Platz EM 100 m Rücken
2019 6. Platz WM 4×50 m Mixed-Staffel, Platz 100 m Rücken
2018 2. Platz EM 100 m Rücken, Platz 50 m Schmetterling