„Mache ich wirklich Leistungssport?“
Omas mit Blümchendekor auf der Badekappe sind gefürchtet. Wie Dämonen aus einer Schattenwelt dringen sie in die Köpfe der Menschen ein, um ihre Gedanken zu steuern und die Wirklichkeit zu verzerren. Zugegeben, diese Vorstellung ist fern der Realität und das Gespinst von Gedanken-kontrollierenden Wesen ist der düsteren Science-Fiction-Serie „Stranger Things“ entlehnt. Klara ist Fan. Aber Omas in Retrobademode sind zumindest lästig.
Oft kriechen die albern planschenden, fragilen älteren Damen in die Köpfe Unwissender, wenn Klara von ihrer Sportart erzählt. Und, Hand aufs Herz: Bei Synchronschwimmen ist Unwissenheit meistens der Status quo. Nicht ernst genommen zu werden, ist eine große Sorge der Athletinnen und der wenigen Athleten dieser mit Klischeebildern behafteten Disziplin. Klara hat irgendwann lieber geschwiegen, anstatt Häme zu ernten. Der Schulhof lehrte, dass Medaillen als Währung der Anerkennung zählen. Eine persönliche Bestleistung hinter den Podiumsplätzen interessierte fast niemanden. Als Heranwachsende kann das arg am Selbstbewusstsein kratzen. „Das Gefühl, eine echte Sportlerin zu sein, fehlte mir“, sagt Klara.
Die 20-Jährige aus Würselen bei Aachen betreibt Kunstschwimmen, seit sie ihrer Schwester Johanna mit fünf Jahren zu den Wasserfreunden Delphin Eschweiler folgte. Mittlerweile taucht ihr Name unter den besten Athletinnen der Welt auf. Um gut zu werden, hat Klara auf der A44 und A52 mehrfach den Äquator umrundet. Nasenbruch und Gehirnerschütterung hielten sie nicht vom Training ab. Vor allem aber lernte sie, dass man nicht immer beeinflussen kann, wann Leistung in Einklang mit Erfolg steht. Glücklicherweise lassen sich selbst alteingesessene Dämonen vertreiben.
Die unerwartete Rückkehr
Klara Bleyer wurde im Dezember zur Nachwuchssportlerin des Jahres im Sportland Nordrhein-Westfalen gewählt. „Ich war schon von meiner Nominierung komplett überrascht“, erzählt sie. „Zuerst habe ich auf Social Media davon erfahren und kurz gezweifelt, ob das echt ist.“ 2017 saß Klara als eines der Toptalente des Landessportbundes im Publikum und applaudierte Falk Wendrich, der damals die Newcomer-Kategorie gewann. Klaras 13-jähriges Ich fand sich mit dem Gedanken ab: „Da kommst du nie wieder hin.“ Doch nicht mit Synchronschwimmen.
Dann hat es Hendrik Wüst eilig, zur Bühne zu gelangen. Klara ist ihm einige zielstrebige Schritte voraus. Laudator Dr. Ingo Wolf fängt sie ab, gratuliert. Der Ministerpräsident kann aufholen und überreicht rechtzeitig den Award. Moderator Claus Lufen spricht von der „vielleicht wichtigsten Auszeichnung des Abends.“ Im vollbesetzten Saal regnet es Beifall. Felix-Preisträger werden von den Bürgerinnen und Bürgern bestimmt. Auf der raumgreifenden Leinwand funkelt golden „Klara Bleyer“. Die Hünen Wüst und Wolf rahmen die 1,53 Meter große Gewinnerin für die Kameras ein. Ohne Kameras stellt sie später klar: „Im Wasser fühle ich mich wohler.“ Die warme Welle der Wertschätzung, die ihr in der Düsseldorfer Classic Remise entgegenschwappt, ist der vorläufige Höhepunkt einer unerwarteten Kehrtwende.
Eschweiler, Würselen, Bochum und viel Autobahn
Klara war zaghaft. Zuerst wollte sie nicht mitkommen. Aber die zwei Jahre ältere Johanna war angefixt. Im Fernsehen hatten die Geschwister einen Beitrag über Niklas Stoepel gesehen, seinerzeit der einzige männliche Profi-Synchronschwimmer Deutschlands. Er hinterließ Eindruck. Also brachten die Eltern beide Töchter zum Probetraining bei den Wasserfreunden in Eschweiler, wissend, dass ihre Jüngste schon beim Babyschwimmen nie aus dem Wasser zu bekommen war. Den anfänglichen Unmut der Fünfjährigen räumte eine Trainerin ab. „Sie sagte zu mir so etwas wie: Wenn du jetzt anfängst, kannst du mal richtig gut werden“, erzählt Klara. Das Mädchen nahm den Motivationsversuch ernst.
Neben dem Kunstschwimmen machen die Schwestern Ballett und voltigieren. Über Landestrainerin Stella Mukhamedova entsteht Kontakt zu den Freien Schwimmern Bochum e.V. Mit zehn und zwölf Jahren wechseln die Schwestern an den Stützpunkt im Ruhrpott. „Das war ein klarer Schritt Richtung Leistungssport“, erklärt Johanna. „In Bochum konnte man konzentrierter und professioneller arbeiten.“ Der Haken ist, Würselen liegt 120 Kilometer entfernt. Die Mädchen steigen nach der Schule zu Mama oder Papa ins Auto. Bald legen sie die Strecke sechsmal pro Woche zurück, um vier bis fünf Stunden am Stück zu trainieren. Rückfahrt nach 22 Uhr. Unterwegs wird gelernt, gegessen, geschlafen, „gelebt“, wirft Vater Maik ein, und gestrickt, um unterzukommen. Ein Pulli dauert etwa fünf Fahrten. „Bochum war der einzige Weg, um besser zu werden“, sagt Klara.
Im letzten Schuljahr vor dem Abitur wohnt Klara im Sportinternat Wattenscheid. Infolge der Corona-Pandemie fällt an vielen Schulen der Schwimmunterricht aus. Klaras Trainingsgruppe profitiert von schier unbegrenzten Wasserzeiten und wächst noch enger zusammen. Es herrscht eiserne Disziplin, aber Klara ist zäh: „Ich will aus meiner Trainingszeit das Beste rausholen. Andere Nationen haben mehr Möglichkeiten.“ Deutschland ist eher Hinterbänkler.
„Synchronschwimmen ist wie eine Sekte“, scherzt Johanna, dann wird sie ernst: „Wir sind mit dieser Trainingsgruppe aufgewachsen und gemeinsam durch emotionale und intime Momente gegangen.“ Mentale Stärke spielt eine große Rolle, betont Klara: „Wenn ich mich wohlfühle und glücklich bin, bringe ich bessere Leistung.“ Das Elternhaus in Würselen ist über die Jahre ihr Kraftzentrum, wo milde Worte wärmen. „Wir wollten Klara nicht zu früh allein auf dem Internat lassen“, sagt Mutter Antje. Dafür nehmen die Eltern den eklatanten Zeit- und Kostenaufwand des Pendelns in Kauf. 2022 macht Klara am Hellweg-Gymnasium Abitur und wird vom DOSB zur Eliteschülerin des Sports ernannt. Inmitten der Prüfungszeit wird sie vierfache Deutsche Meisterin.
Neues Wertungssystem honoriert Mut und Ausdauer
International kommt 2023 ein Wendepunkt. Der Weltverband World Aquatics führt ein neues Wertungssystem ein. Es zielt darauf ab, Leistungen vergleichbarer und Bewertungen transparenter und fairer zu machen. In der technischen Kür schwimmen alle Athleten die gleichen Elemente. In der freien Kür müssen sie jene Elemente zeigen, welche die Trainer dem Kampfgericht im Voraus angeben. Bei Abweichungen gibt es Punktabzüge (Base Marks). Wer in seiner knapp zweieinhalbminütigen Kür viele Figuren mit hohem Schwierigkeitsgrad unterbringt, kann hoch bepunktet werden. Mut zu anspruchsvollen Darbietungen kann sich lohnen, zugleich fallen Fehler stärker ins Gewicht. Auch Synchronität gewinnt an Stellenwert. Explosive, zackige Bewegungen sind einfacher zu synchronisieren und sparen Zeit, um mehr Elemente zu schwimmen. Klara: „Das Künstlerische und die Ästhetik leiden dadurch etwas. Eigentlich ist es eine komplett neue Sportart.“ Als Kind lernte sie, Figuren langsam auszuführen und zu halten. „Das war gut, um seinen Körper kennenzulernen und Technik bewusst zu trainieren,“ weiß sie heute.
Gold für Deutschland war völlig surreal
„Das neue System ist Chance und Risiko zugleich“, findet Klara. „Es öffnet Türen. Das motiviert mich.“ Bei den Jugendeuropameisterschaften auf Madeira begegnet ihr das neue System zum ersten Mal. Klara schwimmt den höchsten Schwierigkeitsgrad des gesamten Feldes und gewinnt die Einzelwertung sowohl in der technischen als auch in der freien Kür. Sie ist die erste Deutsche seit fast 40 Jahren, die bei einer Jugend-EM Gold gewinnt. Mama Antje jubelte am Livestream: „Wir konnten es nicht fassen. Ich glaube, die Ausrichter mussten erstmal die deutsche Nationalhymne googeln.“ Klaras Teamkameraden auf der Tribüne fielen sich in die Arme. „Dieses Ergebnis war völlig surreal“, konstatiert Johanna.
In Fukuoka legt Klara Historisches nach. Der 8. Platz (Technische Kür Solowettbewerb) bei ihrer Premiere im Erwachsenen-Feld ist das beste deutsche WM-Ergebnis aller Zeiten, bis Klara bei den darauffolgenden Weltmeisterschaften in Doha Fünfte wird und eine neue Bestmarke setzt. „Ich rechne mir vorher nichts aus, sonst geht es schief. Ich schwimme für mich, egal auf welchem Platz ich lande.“ Die bitteren Momente mit dem alten Wertungssystem haben Spuren hinterlassen.
Tanz im Wasser
In der technischen Kür werden Pflichtübungen vorgegeben. Die freie Kür ist kreativer. Hier ist die Anzahl der Elemente vorgeschrieben, die dem Kampfgericht vorab mitgeteilt werden müssen. Die Choregrafie soll von künsterlischem Wert sein und synchron zur Musik sowie zum Duettpartner bzw. zur Gruppe ausgeführt werden. Im Teamwettbewerb mit bis zu acht Athlet*innen gibt es zusätzlich Akrobatikelemente, zum Beispiel Hebefiguren. Die Schwimmer dürfen den Beckenboden nicht berühren.
Synchronschwimmen ist seit 1984 für Frauen olympisch. In Paris 2024 finden Duett- und Mannschaftswettbewerbe vom 5. bis 11. August statt. Dann treten zum ersten Mal auch Männer an.
Klaras Erfolge:
5. Platz Weltmeisterschaften 2024 (jeweils Solo Technische Kür und Freie Kür)
Die beste jemals erreichte Platzierung einer deutschen Athletin
Dreifache Deutsche Meisterin 2024 (Solo Technische und Freie Kür, Acrobatic Routine)
Zweifache Jugendeuropameisterin 2023 (Solo Technische und Freie Kür, Platz im Duett)
8. Platz Weltmeisterschaften 2023 (Solo Technische Kür, 9. Platz im Team, Acrobatic Routine)
Vierfache Deutsche Meisterin 2023 (Solo, Duett, Gruppe, Acrobatic Routine)
Karriereknick Studium?
Die Olympischen Spiele in Los Angeles 2028 sind nun eine Option, aber kein festgelegtes Karriereziel, gibt die Athletin zu verstehen. Klara studiert an der FH Aachen Produktdesign im zweiten Semester und fand Zeit für ein Tischlerpraktikum. „Während des Semesters bekomme ich wenig Schlaf. Ich kann mich an keinen Tag Pause erinnern“, schildert sie. Johanna beobachtet den Workload ihrer Schwester skeptisch: „Klara muss lernen, selbst stopp zu sagen, anstatt darauf zu warten, dass andere es tun.“
Ab dem dritten Semester kann Klara das Studium strecken. „Die meisten Synchronschwimmer hören auf, wenn sie ein Studium oder eine Ausbildung beginnen oder wenn sie einen Minijob brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren“, sagt Klara. „Ich finde es gut, dass ich mich bei der Sportstiftung eigenständig und unabhängig von anderen um eine Förderung bewerben kann. Synchronschwimmen braucht eigentlich jahrelange Erfahrung. Es ist schade, dass unsere Nationalmannschaft fast jedes Jahr neu zusammengesetzt werden muss, weil Athletinnen ihre Karriere beenden.“
Klara erhält durch das NRW-Sportstiftungs-Stipendium monatlich 300 Euro, mit denen sie ein Jahr planen kann. Bereits ein neuer Badeanzug für den Wettkampf kann eine komplette Monatsförderung kosten. Antje näht die Einteiler ihrer Töchter deshalb geschickt selbst. Einer pro Choreografie, Halbwertszeit zirka zwei Jahre. „Man muss sich selbstbewusst darin fühlen“, beschreibt Johanna das wesentliche Merkmal des Anzugs. Dasselbe gilt für die Musik. „Es ist cool, wenn man an der Musik das Thema der Kür erkennt“, sagt Klara, vor allem jedoch dürfe sie im Training nicht nerven. Trainerin Stella bringt ihre Favoriten gerne ein – so arbeiten die Athletinnen auch mal zu indigenen Klängen einer sibirischen Band. Wenn Klara freie Wahl hätte, käme aus den Unterwasserboxen der Soundtrack von „Stranger Things“. Die Hauptrolle der Serie spielt ein Mädchen mit übermenschlichen Fähigkeiten.
Nina, musstest Du schon jemanden vor dem Ertrinken retten?
Nina Holt: Nein.
Viele glauben Rettungsschwimmen aus der Serie „Baywatch“ zu kennen …
Nina: Ja, das ist oft die erste Assoziation. Selbst die meisten Schwimmer wissen nicht, was Rettungssport ist, und stellen sich Leute vor, die am Ostseestrand Wache halten. Mittlerweile nehme ich das mit Humor und versuche mich nicht angegriffen zu fühlen.
Wie sieht die Realität aus?
Nina: Die wenigsten die Rettungssportler machen zusätzlich Wachdienst. Ich war mit 15 Jahren im Junior-Einsatzteam für ein Wochenende an einem Waldsee bei Erkelenz, um von den Älteren lernen und ein bisschen Spaß zu haben. Ab 16 Jahren darf man in den Wachdienst (Wasserrettungsdienst) – so weit ist es bei mir nicht gekommen.
Könntest Du „Rettung schwimmen“?
Nina: Ich wäre dazu fähig, Menschen aus dem Wasser zu holen und Erste-Hilfe Maßnahmen zu ergreifen. Rettungssportler sind verpflichtet, alle zwei Jahre das Silberne Rettungsschwimmabzeichen abzulegen. Wir ersetzen aber keine Sanitäter. Manche sagen, wir sind keine wirklichen Rettungsschwimmer: Wie wollt ihr Leben retten, wenn ihr Puppen kopfüber durch das Wasser zieht?
Ein Mensch würde in der Tat ertrinken. Warum wird das in deiner Sportart so gemacht?
Nina: Das ist ein bisschen irreführend, so würde man tatsächlich keinen Menschen retten. Das Rettungsschwimmen wird immer mehr auf den Sport zugeschnitten. Die Puppe liegt mit dem Gesicht nach unten besser im Wasser, weil ihr Schwerpunkt oben ist. Die Rennen werden so immer schneller und interessanter für Zuschauer. Ich finde die Versportlichung sehr gut. Dadurch verstehen die Leute besser, dass es eine Sportart ist. Der Rettungssport ist inzwischen ein eigenes Ressort in der DLRG, dass nicht mehr dem Einsatzbereich zugeordnet ist. Wir trainieren auf Wettkämpfe hin und nicht auf einen realen Rettungseinsatz.
Klarstellung – Was ist Rettungssport?
In diesem Beitraggeht es nicht um die Glorifizierung des Rettungssports. Niemand ist in Not, wenn Nina ins Wasser springt. Der englische Begriff „Life saving“ imaginiert gar heroische Taten der Sportler. Die Daseins-berechtigung des Rettungssports ist dadurch weder größer noch geringer als jene anderer Sportarten. Vor allem vor falschen Vorstellungen sollte deshalb gerettet werden.
Ursprünglich entsprang der Rettungssport der Idee, Menschen für den Wasser-rettungsdienst zu gewinnen. Denn gute Rettungssportler sind auch gute Rettungsschwimmer. Sie übernehmen Erste-Hilfe-Maßnahmen, die in unmittelbarer Nähe zum Wasser notwendig sind. Kraft, Kondition, Schnelligkeit und die Beherrschung der Rettungsgeräte sind Voraussetzung dafür, auch im Wettbewerb konkurrenz-fähig sein zu können.
Im Rettungssport gibt es 12 Einzel-Disziplinen, je 6 im Becken und im Freiwasser, über unterschiedliche Distanzen. Teils wird mit Flossen geschwommen. In der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft e.V. (DLRG) betreiben rund 60.000 Mitglieder aktiv Rettungssport. Die DLRG ist mit über 1,7 Mio. Mitgliedern die größte Wasserrettungsorganisation der Welt und der wichtigste Schwimmausbilder in Deutschland. Im Jahr 2022 verzeichnete die DLRG 355 tödliche Unfälle im Wasser. In NRW waren es doppelt so viele wie im Vorjahr (von 24 auf 56).
Exzellenz aus Erkelenz
Nina Holt (Jg. 2000) zählt bereits nach ihrer ersten Teilnahme an den World Games zu den erfolgreichsten Rettungssportlern aller Zeiten. Die 19-jährige Erkelenzerin hat mehrfach Rekorde gebrochen. Bei den großen Sportereignissen im Jahr 2022 hätte sie sechsmal dieselbe Schlagzeile über sich lesen können: Holt holt Gold.
„Ich war die, die im Seepferdchen-Kurs eher durchs Becken gelaufen ist, anstatt zu schwimmen“, sagt Nina. „Ich bin vom Boden abgesprungen. Das gab immer Ärger.“ Am Ende hat es irgendwie doch geklappt. Ninas Mutter war Übungsleiterin beim Anfängerschwimmen im alten Erkelenzer Bad. Möglich, dass sie damals begann, genauer hinzuschauen, was ihre Tochter im Wasser veranstaltet. Auch am 10. Juli des vergangenen Jahres. Der Anlass war einige Nummern größer als das Seepferdchen und Utes Anwesenheit überraschend. „Warst Du auch schon da?“, kommentierte sie ein Foto von der Moon Shine Rooftop Bar mit der Skyline von Birmingham im Hintergrund und schickte es Nina. Die Mutter erlebt live mit, wie Nina bei den World Games im US-Bundesstaat Alabama fünfmal Edelmetall gewann. Dass sie sich dabei auch mal vom Beckenboden abstieß, war hierbei sogar regelkonform.
„So krass“ – überall nur Sportler
Nina ist 14 Jahre alt, als sie im Fernsehen zum ersten Mal Notiz von den World Games nimmt. „Ich dachte: Wow, da möchte ich hin.“ Fünf Jahre später ist sie tatsächlich dabei. Wobei „dabei“ extrem untertrieben ist. Nina dominiert. An den World Games in Birmingham nahmen Aktive aus 110 Nationen teil. „Es war so ein krasses Erlebnis. Mit nichts zu vergleichen. Unbeschreiblich. Das Athletendorf war auf einem Unicampus. Man geht aus der Tür und sieht überall nur Sportler.“
Lächelnd zu Rekorden
Nina ist die Jüngste in der Nationalmannschaft, tritt aber in den meisten Disziplinen an: sechs Starts innerhalb von zwei Tagen. Ihr erstes Rennen ist an einem Nachmittag. Nina hat eine „entspannte“ Nacht hinter sich und konnte ausschlafen. Ein besonderer Luxus für Schwimmer, die normalerweise schon Bahnen ziehen, während sich andere im Bett nochmal umdrehen.
Eine Woche vor den World Games war Ninas Stimmung „eher naja“. Jetzt aber stimmt die Form. „Da muss man dann ehrlich mit sich selber sein“, erklärt sie. „Wenn man die Nerven behält und im Wettkampf reproduziert, was man trainiert hat, dann läuft es einfach. Ich bin lächelnd ins Rennen gegangen und habe mein Ding gemacht.“ Sie gewinnt ihr erstes Gold in der Disziplin 200 Meter Hindernis, bei der pro Bahn zwei 70 Zentimeter tiefe Hindernisse untertaucht werden müssen. Nina unterbietet die von ihr selbst aufgestellte deutsche Bestzeit um drei Sekunden. Innerhalb von 48 Stunden legt sie zwei World-Games Rekorde, einen Weltrekord und reichlich Edelmetall nach.
Zwei Monate nach den World Games reist Nina als Favoritin zu den Weltmeisterschaften im italienischen Riccione. Erneut bricht sie Rekorde und heimst Medaillen ein.
Sie taufen sie „Wasser-Usain-Bolt“
„2022 war das erste Jahr, in dem es durch und durch gut lief“, schwärmt die Athletin. „Ein Unterschied wie Tag und Nacht“, sei es gewesen, im Vergleich zur Saison davor. Wegen Corona blieben damals viele Bäder geschlossen. „Ich bin von Ort zu Ort gereist, um irgendwie Wasserzeiten zu bekommen.“ Dass es sportlich auch anders laufen kann, lehrte die Europameisterschaft. Nina setzt ein Rennen in den Sand. „Das hat mich in dem Moment fertiggemacht“, erzählt sie. „Aber ein schlechter Wettkampf entscheidet nicht über meine Karriere.“ Schon das nächste Rennen lief besser. Am Ende fährt sie ihre erste internationale Medaille in der offenen Klasse ein: Bronze über 200 Meter Hindernis.
Nach ihrem Abitur wird Nina Sportsoldatin. Sie zieht nach Warendorf im Münsterland, wo sich der Bundesstützpunkt für Rettungssportler befindet. Dort trainiert sie täglich mit Material – Puppen, Gurte, Flossen – anstatt nur vor den Wettkämpfen. „Warendorf war ein Leistungssprung“, sagt Nina. Vier Monate nach ihrer Ankunft stellt sie ihren ersten Weltrekord bei den Deutschen Einzelstrecken-Meisterschaften auf – in ihrer Lieblingsdisziplin, der kombinierten Rettungsübung. Zuerst im Vorlauf, dann unterbietet Nina sich selbst im Finale. Ihre Trainingsgruppe verpasst ihr den Spitznamen „Wasser-Usain-Bolt“.
Ninas World-Games-Bilanz
Gold über 200 Meter Hindernis
Bronze über 100 Meter Retten mit Flossen
World-Games-Rekord über 50 Meter Retten
Gold mit der Staffel „4 x 25 m Retten einer Puppe“
Gold + Weltrekord mit der Staffel „4 x 50 m Retten mit Gurt“
Ninas WM-Bilanz
Gold + Weltrekord über 100 Meter Kombinierte Rettungsübung (1:07,04 Minuten)
Gold + Europarekord über 50 Meter Retten einer Puppe
Silber mit der Staffel „4 x 25 m Retten einer Puppe“
Bronze über die 200 Meter Hindernis
Bronze mit der 4×50-m-Rettungsstaffel
Bronze mit der Rettungsstaffel im Freigewässer
Wie fühlt sich das an, einen Weltrekord zu brechen?
Nina: Das mit dem Rekord war eine krasse Sache. Durch meine Zeiten im Training wusste ich, so langsam bin ich nicht. Ich hatte mir den Rekord dann in gewisser Weise vorgenommen. Während des Rennens denkt man nicht: Ich will Weltrekord schwimmen, sondern: Ich will maximal schnell schwimmen. Wir hatten Sprecher in der Halle. Die hatten es gar nicht auf dem Schirm. Ich war mir im Ziel selbst nicht sicher. Die Liste der Rekorde war nicht aktualisiert worden. Ich hatte mir vor dem Rennen die Rekordzeit nochmal angesehen – aber eben die falsche, nicht aktuelle Zeit. Es hätte unangenehm werden können (lacht). Ich war dann knapp darunter. Als ich aus dem Wasser gestiegen bin, sprintete einer aus meiner Trainingsgruppe zum Sprecher. Natürlich ist in diesem Moment noch nichts offiziell, aber die Zeit war erstmal gefallen. Das war für mich in dem Moment genug, um ein bisschen zu feiern.
(Foto DLRG/Daniel-André Reinelt)
Die Puppe braucht Gefühl
Bei der kombinierten Rettungsübung müssen erst 50 Meter Freistil absolviert werden. Dann tauchen die Athleten nonstop 17,5 Meter zum Boden des Beckens. Dort nehmen sie eine 50 Kilogramm schwere Puppe auf, wobei sie sich vom Boden abstoßen dürfen, um die Puppe die übrigen 32,5 Meter ins Ziel zu schleppen. Es kommt auf Geschicklichkeit an. Nina: „Es gibt unheimlich gute Schwimmer, die aber nicht das Gefühl dafür haben, wie man eine Puppe bewegt. Es gibt so viele technische Feinheiten. In der ‚Kombi‘ ist es egal, ob du auf den ersten 50 Metern vorne bist, denn man muss noch zur Puppe tauchen, sie aufnehmen und mit ihr schwimmen. Allein bei der Aufnahme kann die Puppe aus der Hand rutschen und das Rennen entschieden werden.“
So ein Missgeschick passierte Nina zuletzt bei den Deutschen Meisterschaften 2018. Sie verlor die Puppe. Das kostete fünf Sekunden und das Podium. Bitter: In derselben Disziplin hatte sie zuvor bei der Jugendeuropameisterschaft (JEM) Silber gewonnen. Dass sie überhaupt mit damals 15 Jahren an einer JEM teilnehmen konnte, war besonders. Erst 2015 war sie der DLRG Erkelenz beigetreten – eigentlich nur, um mehr Schwimmzeiten abzubekommen. Dass es im Rettungsschwimmen Wettkämpfe gibt, wusste sie nicht. Die DLRG-Ortsgruppe war ein Tipp von Mama. „Im Schwimmsport wäre ich zu dem Zeitpunkt nicht bei einer EM gestartet.“ Die Geschichte nimmt ihren Lauf.
Präsidenten gratulieren
Nina Holt wird als World-Games-Athletin des Jahres nominiert. Bundespräsident Steinmeier zeichnet sie und die anderen Goldmedaillengewinner mit dem Silbernen Lorbeerblatt aus. Es ist die höchste Auszeichnung für sportliche Spitzenleistungen in Deutschland. Zum Jahresende gratuliert NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst zum FELIX Newcomer-Award. Die Preisträger werden jährlich von den Bürgern per Online-Voting bestimmt. Geht es nach Nina, darf ein „kleiner Erfolg“ nicht unerwähnt bleiben, der nichts mit Rettungssport zu tun hat. Mit dem dritten Platz bei den Deutschen Meisterschaften über 50 Meter Freistil bewies sie sich: „Ich kann auch was im Schwimmen.“
Schwimmen ist im Gegensatz zum Rettungsschwimmen eine olympische Sportart und damit näher dran an Fördertöpfen und Medienpräsenz. „Ich finde es schade, dass unsere Leistungen manchmal runtergespielt werden“, sagt Nina. „World-Games-Sportler machen ihre Sportarten mit dem gleichen Ehrgeiz, mit dem gleichen Ziel zu gewinnen. Man denkt, man bekommt mehr Anerkennung, aber dann gibt es immer wieder mal Punkte, wo man sich denkt, es könnte ein bisschen besser laufen.“ Langsam entwickle sich mehr Förderung für Rettungssportler. Bei der Sportstiftung NRW können sich World-Games-Sportlerinnen und -Sportler seit 01.01.2023 um eine gleichberechtigte Individualförderung bewerben.
Vom FELIX nach Magdeburg (und nach Australien?)
Nach der FELIX-Gala im Dezember bezieht Nina eine 60-Quadratmeter-Wohnung in Magdeburg. In dem Plattenbau wohnen Studenten und Rentner. Ninas erste eigene Wohnung ist „ganz schnuckelig“ und nur fünf Gehminuten von der Elbehalle entfernt. Bundestrainerin Elena Prelle hatte die DLRG zum Jahreswechsel auf eigenen Wunsch verlassen. Da ein Trainerwechsel somit ohnehin anstand, entschied sich Nina nach einigen Probetrainings in ganz Deutschland für den Wechsel von Warendorf an den Bundesstützpunkt „Schwimmen“ in Magdeburg. NRW bleibt sie durch ihre Vereine, die SG Mönchengladbach und die DLRG Harsewinkel, verbunden. Die Trainingsgruppe von Bernd Berkhahn in Magdeburg gilt als eine der stärksten weltweit, unter anderem mit Olympiasieger Florian Wellbrock. „Ich finde es wichtig, sich im Training wohlzufühlen, einem Trainer zu vertrauen und zu verstehen, was wir trainieren. Ich glaube, der Wechsel wird mich weiterbringen.“
Im Schwimmen wird 2023 erstmalig eine U23-EM ausgetragen. „Das schlägt eine Brücke zwischen Jugend und offener Klasse“, erklärt Nina. Wittert sie eine Chance, im olympischen Sport durchzustarten? „Ich will erstmal die Teilnahme schaffen“, wiegelt die Newcomerin ab. Dieses Prinzip hat bisher gut funktioniert: Erstmal am Boden bleiben und sich dann abstoßen. „Vielleicht ziehe ich in neun Jahren nach Australien und will Olympia im Rettungssport machen.“