Kanu-Rennsport
18986 Auf der Ruhr zu Ruhm



Die Alte Ruhr zieht sich in einem sanften, weiten Bogen entlang des Ufers. Alstaden ist der südlichste Stadtteil von Oberhausen und der einzige mit Ruhrkontakt. An diesem Abschnitt darf sich das Gewässer entfalten und seinem natürlichen Verlauf folgen. Es scheint hier fast, als könnten die Dinge in Einklang mit dem Fluss ihren eigenen, natürlichen Verlauf nehmen.

Oma, Opa, Onkel, Großtante, Vater, beide Brüder – die Ruhr hat sie alle gesehen. Unter dem Wappen des Alstadener Kanu-Clubs (AKC) Oberhausen, den Großvater Friedhelm 1956 mitbegründete, trugen sie den Bundesadler auf der Brust. Caroline, die Jüngste der Ruhrpaddlerfamilie Heuser, ist längst auf bestem Wege, der generationsübergreifenden Erfolgsgeschichte neue Kapitel hinzuzufügen. Sie macht dies mit einer Selbstverständlichkeit und Stärke, die selbst Kanuexperten ins Staunen versetzt. Die Prognose scheint wenig gewagt: Caroline (18) wird ihre Oma (85) einholen, vielleicht sogar überholen.

„Oma hat überall ihren Senf dazugegeben“

Ingrid Heuser nahm 1964 an den Olympischen Spielen in Tokyo teil. Auf tragische Weise blieb sie Ersatzfrau. Obwohl sie bessere Wettkampfergebnisse erzielte als ihre Teamkolleginnen, entschied der Bundestrainer, sie nicht ins Rennen zu schicken. Dennoch legte Ingrid eine beachtliche Karriere hin und engagierte sie sich bis ins hohe Alter als Trainerin in ihrem AKC – und selbstverständlich fährt sie ein weinrotes Auto in den Vereinsfarben.

„Paddeln haben wir alle bei der Oma gelernt“, sagt Tobias Heuser (25), ihr ältester Enkel. Das Seepferdchen-Abzeichen ist Voraussetzung für die Aufnahme in den Verein. Mit rund hundert Mitgliedern ist der AKC ein kleiner Vertreter der Kajak-Hochburg NRW. Regelmäßiges Training im Kanusport beginnt im Alter von etwa acht bis zehn Jahren. Erst letztes Jahr hat Mutter Claudia Heuser, Sportwartin im AKC, die Fortgeschrittenengruppe von Oma Ingrid übernommen. „Mit 12, 13 Jahren kamen wir in die Trainingsgruppe meines Vaters“, erklärt Tobias weiter. Nach ihm sein Bruder Niklas Heuser (23) und die talentierte kleine Schwester. „Das alles ist irgendwie ganz normal für uns“, sagt Caroline.

Vater Karsten trainiert seit über 20 Jahren Kanuten und vertritt den AKC als 1. Vorsitzender – eine Position, die Großvater Friedhelm jahrzehntelang innehatte. Vorteil kleine Trainingsgruppe: Das Programm für die Athleten ist fast maßgeschneidert. „Die Eins-zu-eins-Betreuung durch meinen Vater war ein großer Luxus“, erinnert sich Niklas. In den Wintermonaten liegt der Fokus auf Grundlagenausdauer mit langen Distanzfahrten, während im Sommer spezifische Anforderungen wie Starts und Sprints trainiert werden. Auch im Hause Heuser folgt man diesen Prinzipien.

Wenn keine Raketenwissenschaft dahintersteckt, warum wurden aus den Geschwistern dann Raketen? Caroline überlegt: „Wir fahren im Winter mehr längere Einheiten. Aber richtig erklären kann ich es mir nicht.“ „Das Vertrauen ist da, dass unser Vater es richtig macht“, sagt Niklas. Zudem mischte sich Oma gerne ein, wenn am Küchentisch über den Paddelsport philosophiert wird. „Oma gibt überall ihren Senf dazu und hinterfragt immer kritisch, was gut ist“, schmunzelt Tobias.

Das wird am Küchentisch geregelt

Die Söhne sind mittlerweile ausgezogen. Tobias arbeitet als Baukaufmann. Er spricht aus, was die meisten Athleten betrifft: „Vom Sport kann man nicht leben. Ich habe es so gemacht, wie ich meine, dass es richtig ist. Manchmal eckt man hinsichtlich der Priorisierung in der Familienrunde an, aber das ist in Ordnung“, meint Tobias. Zwischen 2015 und 2017 nahm er im Kanu-Rennsport unter anderem an den Olympic Hope Games – einem Ländervergleich für Nachwuchssportler – teil und gewann dreimal (2016: K4 über 100 m, 2017: K2 über 500 m und 1.000 m). Heute setzt ihm der Beruf Grenzen. „Ich wünsche mir, wieder mehr Zeit zum Paddeln zu haben“, sagt er.

Caroline hält am Küchentisch die Stellung: „Mittlerweile bin ich alt genug, um mitzureden. Das endet dann natürlich auch mal in Diskussionen mit meiner Mum und meinem Dad.“ Der Austausch ist ihr wichtig. Es geht um Trainings- und Wettkampplanung, manchmal auch um heikle Themen wie einen möglichen Vereinswechsel.

Der Altersunterschied ist ein Grund, weshalb die Geschwister kaum zusammen trainieren. Caroline sagt, sie habe stets zu ihren Brüdern hochgeschaut. „Tobias hilft immer. Aber er sagt dir auch sofort, was du hättest besser machen können“, stichelt sie. Niklas ist der mit den lustigen Sprüchen, der Modellathlet. 2019 wurde er Weltmeister im Juniorenbereich (K2 über 1.000 m).

„Der einzige Kampf ist der mit sich selbst“

„Wir haben uns nie miteinander verglichen. Es gab keinen Konkurrenzkampf“, sagt Caroline. „Der einzige Kampf ist der mit sich selbst, um die Leistung im nächsten Jahr halten zu können oder besser zu sein.“ Um ihren Hals baumelt ein kleines, silbriges Kajak. Es erinnert an den Dolchzahn eines Raubtiers. Junioren-Weltmeisterin war sie gleich zweimal nacheinander.

Als erste Athletin im Deutschen Kanu-Verband rückte sie bereits als 15-Jährige zu den Junioren hoch – zwei Jahre früher üblich. Ihre Wahl zur felix Newcomerin des Jahres 2024 bestätigte ihren Ausnahmestatus und machte ihr Talent einer breiten sportinteressierten Öffentlichkeit bekannt. Nominiert für die Auszeichnung war sie bereits 2023. Carolines ersten Worte bei der Siegerehrung galten den anderen Nominierten – voller Anerkennung ihrer Leistungen. Die Newcomer der jüngeren Vergangenheit traten bald danach bei Olympischen Spielen an oder setzen ihren Erfolg bei großen Wettbewerben fort (Sarah Voss/Kunstturnen, Nina Holt/Schwimmen, Alexandra Föster/Rudern, Klara Bleyer/Synchronschwimmen).

Olympia-Träumerei mit 17 Jahren

Der Panoramaweg oberhalb der Alten Ruhr ist ein beliebtes Ziel von Spaziergängern und Radfahrern. In Sichtweite fließen – oft zäh – die Asphaltströme A3 und A40. Hinter den Stadtgrenzen Oberhausens, dort, wo Wasser und Autobahnen sich kreuzen, hat man die Ruhr zum Schifffahrtskanal begradigt. Ein kleiner Steg am Fuß der Böschung dient als Ausgangspunkt für die Fahrten der Alstadener Kanuten. Den Wechsel vom Altarm in den Schifffahrtskanal hat Caroline unzählige Male absolviert.

An sechs Tagen in der Woche steigt sie – nach Schulschluss – ins Kajak. „Das ist eigentlich wenig im Vergleich zu Athleten an Sportschulen“, erklärt sie. Für Training vor dem Unterricht bleibt keine Zeit. Da Caroline keine Sportschule besucht, sind umfangreiche Freistellungen für das Frühtraining nicht möglich. Ihre Brüder wählten denselben Werdegang. Was wäre möglich mit mehr Trainingszeit? Caroline liebäugelte bereits mit den Olympischen Spielen in Paris. „Nach den Ranglistenergebnissen wäre ich unter den schnellsten deutschen Damen gewesen“, rechnet sie.

Eine Olympiateilnahme mit 17 Jahren als Frischling bei den Juniorinnen schien zunächst eine irrwitzige Idee zu sein – dann aber ein entschlossener Gedanke. Wie außergewöhnlich das war, zeigte das Meldeportal IMAS zur Registrierung für internationale Wettkämpfe: Der Jahrgang 2007 war gar nicht erst zur Auswahl zugelassen. „Ich hätte natürlich zuerst die Qualifikation schaffen und dazu in das World-Cup-Team kommen müssen“, relativiert Caroline. Der Preis wäre sehr wahrscheinlich eine Wiederholung des Schuljahres und ein Schulwechsel gewesen, da die intensive Vorbereitung zu viel Unterrichtszeit in Anspruch genommen hätte. Caroline überlegt kurz: „Olympia wäre es mir trotzdem wert gewesen.




Kein Wechseldruck


Die Idee wurde am Ende noch vor der nationalen Qualifikation verworfen. Der Kanuverband sieht eine vielsprechende Perspektive in Los Angeles 2028. NRW-Athletinnen und -Athleten haben bei Olympischen Spielen stets Medaillen eingefahren. Sie trainieren normalerweise an einem Stützpunkt unter Bundes- und Landestrainern. Das trifft bislang nicht auf Caroline zu. „Kleine Vereine sind im Nachteil. Sie haben nicht die finanziellen Mittel, die großen Vereinen mit vielen erfolgreichen Athleten zur Verfügung stehen“, erklärt sie. „Ich bin zum Training in einer größeren Trainingsgruppe bereit, wenn ich überzeugt bin, dasses mir weiterhilft. Die Entscheidung liegt aber bei mir“, betont sie. „Wenn die Entwicklung stagniert, würde es keinen Spaß mehr machen. Im Training fährt man zwar meistens im Einer, aber für den Kopf ist es wichtig, nicht alleine auf dem Wasser oder im Kraftraum zu sein. Das lockert die Stimmung und ich brauche den Konkurrenzkampf.“

Auf lange Sicht ist ein Wechsel denkbar, um Anschluss an die Topathletinnen zu halten. Das Startrecht für ihren Heimverein möchte Caroline behalten. Wenn sie den Aufnahmetest in die Sportfördergruppe der Bundespolizei schafft, könnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: dem AKC treu bleiben und von neuen Trainingsmöglichkeiten profitieren.

Niklas macht ihr Mut: „Caro soll machen, was ihr Freude bereitet. Sie wird überall auf Topniveau mithalten.“ Das „Familienunternehmen“ Heuser lebt diese Werte. „Wir haben zu Hause nie Druck bekommen“, erklärt Niklas. Die Familie hat immer hochgehalten, dass man in erster Linie Spaß am Paddeln haben sollte. Klar war: Wenn du keine Lust darauf hast, wird das nichts mit dem Leistungssport.“

Niklas spricht aus leidvoller Erfahrung. Er war amtierender Weltmeister, als im Frühling 2020 die Corona-Pandemie ausbrach. Alle Wettkämpfe wurden abgesagt. Niklas blieb wie vielen anderen Athleten zu dieser Zeit nur das Training – oft allein, in Ungewissheit, ohne Wettkampfziel. „Es war deprimierend“, sagt er. Besonders im Winter stieß er des Öfteren an die Grenzen seiner Motivation. Der Abstand zur Spitze wuchs – gefühlt uneinholbar. Der Übergang in die Leistungsklasse der Männer erschwerte seine Situation. Niklas zog sich aus dem Leistungssport zurück, konzentrierte sich auf sein Studium und zog nach Essen. Dort schloss er sich später einer größeren Trainingsgruppe an. Die Freude am Paddeln kehrte zurück. „Der innere Druck ist weg“, sagt Niklas. „Jetzt ist mein Ziel, bei den Deutschen Meisterschaften den Mixed-Zweier mit meiner Schwester zu fahren.“

Marathon oder Sprint? Beides!


Caroline nahm am einzig möglichen Wettkampf während der coronabedingten Blockade teil – einem Kanu-Marathon. Die Distanzen und Anforderungen in dieser Disziplin sind eine völlig andere Haunummer als der sprintfokussierte Kanu-Rennsport. Die Rennen erstrecken sich über bis zu 30 Kilometer und 2,5 Stunden. Zusätzlich gibt es Portagen – Stellen, an denen die Kanuten ihr mindestens acht Kilogramm schweres Boot über Land tragen müssen. Caroline bewies auch hier außergewöhnliche Qualitäten. Keine Woche nach ihrem WM-Titel auf der Sprintstrecke gewann sie im vergangenen Jahr bei den Marathon-Europameisterschaften im Zweierkajak Silber.

Caroline gelingt es bereits in jungen Jahren, Topleistungen auf Kurz- und Langstrecke gleichermaßen abzurufen. Das ist eigentlich so nicht machbar, da in der Regel eine Spezialisierung auf eine Strecke stattfindet“, staunt Jens Lüthge, Geschäftsführer des Kanu-Verbandes NRW. „Ich liebe es, die 500 Meter runterzuknallen. Aber ich kann mich auch gut durch lange Distanzen quälen“, sagt die Athletin. Das beides sehr wohl möglich ist, bewiesen alle drei Geschwister mit Platzierungen auf dem Siegerpodest.

Der Kanu-Marathon ist eine Sportart der World Games. Der Rennsport ist olympisch und aufgrund seiner viel größeren Medienpräsenz reizvoll. „Stell dir vor, du paddelst im Fernsehen und deine früheren Schulkameraden sehen dich“, malt sich Caroline aus. 2028, wenn sie möglicherweise in Los Angeles startet, wird Oma Ingrid 88 Jahre alt sein. Sie würde stolz zusehen, wie ihre Enkelin in ihre Fußstapfen tritt – und sie übertrifft. Ein großer Gedanke, der zugleich wie der natürliche Lauf der Dinge erscheint.

Kanu-Rennsport

Kanu-Rennsportler fahren auf stehendem Wasser in markierten geraden Bahnen um die Wette. Die Sportart teilt sich in die Bootsgattungen Kajak (K) und Canadier (C). Kajak wird sitzend mit einem Doppelpaddel gefahren. Das Steuer im Heck wird mit den Füßen bedient. Canadier-Fahrer bewegen ihr Boot kniend mit einem Stechpaddel. In beiden Klassen gibt es Einer-, Zweier- und Viererboote, die über die olympischen Distanzen von 200 bis 1.000 Meter fahren. Der Sport hat indigene Wurzeln: Indianische Stämme (Canadier) und die Inuit (Kajak) nutzten die Boote zur Fortbewegung und Jagd. Später wurden sie von europäischen Kolonisten weiterentwickelt.

1936 wurde Kanu-Rennsport bei den Männern, 1948 bei den Frauen ins olympische Programm aufgenommen. Deutsche Kanutinnen und Kanuten gewannen seitdem über hundert olympische Medaillen – die meisten in Gold. Der Deutsche-Kanu-Verband (DKV) ist damit einer der erfolgreichsten Sommersportverbände in Deutschland. Die Disziplin Kanu-Marathon wird über zehn Kilometer oder mehr gefahren und ist eine nicht-olympische World-Games-Sportart.

Kanu-Rennsport




Carolines Heuser geb. 2007, aus Oberhausen. Sie startet für den Alstadener Kanu Club Oberhausen 1956 e.V. und besucht das Abtei-Gymnasium in Duisburg-Hamborn.

Erfolge 2024:

Gold Kanu-Rennsport Junioren-WM im K1 über 500 und Silber im K4 über 500 m
Silber Kanu-Marathon EM im K2 über 19 km sowie Bronze im K1 über 19 km
3 World-Cup-Siege im Kanu-Marathon (über 19 km, 3,4 km und im Mixed Relay)
Sechsfache Deutsche Meisterin im K1 über 500, 1.000, 5.000 m sowie 1.000 m (LK), im K2 über 200 und 500 m

Erfolge 2023:

Gold Kanu-Rennsport Junioren-WM im K1 über 1.000 m und Bronze über 500 m
Gold Junioren-EM im K1 über 500 und 1.000 m
Fünffache Deutsche Meisterin im K1 über 200, 500, 1.000, 5.000 m sowie im K4 über 500 m

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