Ruhig öffnet Gianna Regenbrecht die Boxentür in der Westfälischen Reit- und Fahrschule in Münster. Ihre Dunkelfuchsstute Selma senkt sofort den Kopf. Sanfte Begrüßung. Gianna streift ihr ein Halfter über und holt sie aus der Box. Mit der einen Hand führt sie Selma am durchhängenden Strick, mit der anderen fährt sie ihren Rollstuhl durch die Stallgasse. Ein ganz normaler Tag.
Gianna ist im Nachwuchskader der deutschen Para Dressurreiter und amtierende deutsche Vizemeisterin in ihrer Wettkampfklasse. Nach einem Jahr Corona will sie nur eins: endlich wieder Turniere reiten. Manchmal baut der Chef der westfälischen Reit- und Fahrschule Jörg Jacobs ein Trainingsturnier auf, um drin zu bleiben: Mähne einflechten, Blümchen an das Viereck stellen, Aufgabe reiten. Oder Gianna fährt nach Warendorf zum Landgestüt. Rein in den Hänger, raus aus dem Hänger. Andere Umgebung, andere Halle, andere Geräusche und Gerüche. Selma hat ein wenig von ihrer Coolness verloren in der reizarmen Coronazeit. Der Reiter muss in solchen Situationen das Pferd auch mal etwas entschiedener steuern können. „Ohne Beine ist das dann schwierig“, sagt Gianna.
Wie auf einem Sitzball ohne Beine
Sie geht zurück zu jenem Tag im Jahr 2014. Gianna ist 20 Jahre alt. Sie reitet das Pferd einer Freundin, es erschrickt sich, steigt, stürzt nach hinten und begräbt seine Reiterin unter sich. Giannas zweiter Lendenwirbel bricht. In den Wochen danach implantieren Ärzte ihr einen Titanwirbel, verdrahten und verschrauben sie. Gianna sagt, ihr Rückenmark sei „durchlöchert wie ein Schweizer Käse“; nur ein paar wenige Muskeln in den Beinen kann sie noch ansteuern. Inkomplett querschnittsgelähmt heißt das im Fachjargon.
Gianna lernt das Leben neu. „Plötzlich kennt man seinen Körper nicht mehr“, sagt sie. Nach drei Monaten kann sie mit dem Zeh wackeln. Es ist „das Größte“ für sie. Sie stürzt sich in die Reha, feiert auch kleine Fortschritte als Erfolge. Bei der Hippotherapie sitzt sie wieder auf dem Pferderücken – und will es fortan nicht mehr missen. Mit Claudia Lange, Giannas Trainerin des Vertrauens seit sie 16, ist und dem sanften Norwegerwallach Hero beginnt sie zu üben. Heimlich. „Ich wusste, es fühlen mir sonst alle den Puls“, sagt Gianna und lacht. Anfangs ist sie wackelig im Sattel. Ihr Gleichgewichtssinn funktioniert, aber ihre Muskeln können ihn nicht umsetzen. „Es fühlt sich an wie auf einem Sitzball, wenn man die Beine hochhebt“, beschreibt sie das Gefühl.
Sieger der Herzen
Als sie auf Hero auch im Trab sitzen kann, drehen sie ein Video. Sie zeigt es ihren Eltern. Jetzt ist es öffentlich: Gianna reitet wieder. Durch „Zufall oder Schicksal“, wie sie sagt, lernt sie den Bundestrainer der Para Reiter kennen. Er erkennt ihr Potenzial und gibt ihr einen Startplatz bei den Deutschen Meisterschaften, um „das Feeling“ zu bekommen. Mit Freundin Sonja, Trainerin Claudia und Pony Hero, der mit seinen 20 Jahren noch nie so weit gereist war, machen sie ein Mädelswochenende in Brandenburg. Auf dem Abreiteplatz traben Hero und Gianna neben Grand-Prix-Pferden. Am Ende werden sie Vorletzte, aber Sieger der Herzen. „So bin ich da reingerutscht“, erzählt Gianna lächelnd. 2016 kommt Selma zu ihr und erfüllt den Wunsch vom ersten eigenen Pferd.
„Mut machen, das kann ich“
Aufgewachsen ist Gianna in Lippstadt. Nach dem Abitur beginnt sie eine Ausbildung zur Tierarzthelferin und wartet auf einen Studienplatz für Tiermedizin. An diesem Plan will sie auch nach ihrem Unfall festhalten. Da denkt sie noch, in einem halben Jahr könne sie wieder laufen. Nach und nach wird ihr klar: „Das geht nicht.“ Wieder bezeichnet sie es als „Schicksal“, in der Klinik von einem Arzt behandelt zu werden, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt. Sie schwenkt gedanklich um auf Humanmedizin will mit den eigenen Erfahrungen anderen helfen, mit „dem Querschnitt“ umzugehen, und ihnen Mut machen. „Ich glaube, das kann ich“, sagt sie. „Patienten sprechen gerne mit mir. Sie fühlen sich verstanden.“ Es geht – in jeder Hinsicht – um Augenhöhe.
Gianna bewirbt sich für ein Medizinstudium in Münster. Als sie den Brief mit der Zusage öffnet, rollen Tränen. Vorbereitet darauf, im Rollstuhl allein nach Münster zu ziehen, ist sie nicht. Ihr Freund Marius, mit dem sie schon vor dem Unfall zusammen war, kann so schnell nicht mitziehen. Doch Herausforderungen liegen zu lassen, ist nicht Giannas Ding. Sie zieht in eine WG und beginnt das Studium in einer Stadt, die viel rollstuhlfeindliches Kopfsteinpflaster hat – aber dafür hervorragende Reitmöglichkeiten.
Reiten hilft beim Gehen
Mit Selma steigt Gianna in den Turniersport ein – mit aller Zeit, aller Anstrengung und allem Ehrgeiz, den es dafür braucht. Selma und sie werden zum Team, das auf feinste Art miteinander kommuniziert und erfolgreich wird. Selma fordert Geduld und Gelassenheit, Klarheit und Fokussierung – und immer wieder die Energie, nie aufzugeben.
„So lange Krankenhausbett – und jetzt internationale Turniere. Das überwältigt mich immer noch“, sagt Gianna. Es sind aber nicht nur die Turniererfolge, die zählen. „Wenn ich auf dem Pferd sitze, sieht man mein Handicap nicht“, sagt Gianna. „Das ist für den Kopf wirklich toll.“ Die Bewegung auf dem Pferd gibt Rumpfstabilität und trainiert die Muskeln in den Beinen, die sie noch ansteuern kann. Irgendwann kann sie zum ersten Mal allein ihren Rollstuhl in den Kofferraum stellen und mit kleinen
Schritten und Festhalten zum Fahrersitz gehen. „Das scheint alles wenig“, meint sie nachdenklich. „Aber das ist so viel mehr, als nur auf dem Pferd sitzen.“
ist ein blöder Satz.“
Mülltüten sind besser als Blüschen
Einen kompletten Tag in der Woche verbringt Gianna nach wie vor im Ambulanticum in Herdecke: Kraftraum, Geräte, Laufen mit Gewichtsentlastung auf dem Laufband. Zusätzlich Physiotherapie in Münster und „Joggen“ mit Rollstuhl und Hund. „Ich versuche alles, um außer Puste zu kommen, um meine Kondition zu verbessern“, erzählt sie. Aber ohne die großen Muskelgruppen in den Beinen einzubeziehen, geht das schwer. Dafür hat sie breite Schultern und die helfen ihr, mit etwas externer „Anschubhilfe“ aufs Pferd zu kommen. „Die schmalen Blüschen passen mir schon lange nicht mehr“, sagt sie lachend.
In ihrer Freizeit fährt Gianna mit Freunden auf Festivals, klassisch im Zelt und klassisch mit Regenschauern. Um das nasse Sitzkissen vom Rolli wickelt sie kurzerhand eine Mülltüte. Kreativ sein, Lösungen finden. „Das macht mich aus.“ Drei Wochen reist sie mit ihrem Freund Marius, Rucksack und Rollstuhl durch Kambodscha. „Das geht nicht, ist ein blöder Satz“, hält sie fest.
Sieben Jahre Durststrecken
Inzwischen lebt Gianna mit Marius und Dalmatiner Silas in einer Wohnung mitten in Münster. Ihre Eltern, die nichts von den ersten Reitversuchen wissen durften, sind zu ihren größten Fans geworden. Ihre Trainerin gibt ihr durch ihren scharfen, aufmerksamen Blick ein hohes Maß an Sicherheit.
„Sieben Jahre mit Durststrecken“, sagt Gianna, „da braucht man Menschen, um sich herum.“ Manchmal, um einen sanft in den Hintern zu treten, manchmal um aktiv anzupacken, manchmal, um einfach nur da zu sein.
Die Möglichkeit, auch finanzielle Unterstützung zu bekommen, ist für Gianna neuer Ansporn, um weiter zu trainieren, durchzuhalten, immer besser und erfolgreicher zu werden. Sie schafft es. Seit dem Wintersemester 2020 wir sie von der Sportstiftung NRW und WestLotto gefördert. Im Verbund ermöglichen sie Gianna ein Deutschlandstipendium. Die Universität Münster vergibt die Stipendien. Förderpartner und Bund finanzieren sie. Gianna hat dadurch jeden Monat 300 Euro in der Tasche. Um die Boxenmiete und das Training in der für sie so wichtigen barrierefreien Westfälischen Reit- und Fahrschule muss sie sich nicht mehr sorgen. „Das ist für mich richtig cool“, sagt sie. „Müsste ich zusätzlich einen Studentenjob ausüben, könnte ich Reiten, Studium und meine Physio niemals auf diesem Niveau umsetzen.“
Klotzen, nicht kleckern
Auch das Corona-Virus schafft es nicht wirklich, Gianna zu stoppen. Als die Turnierplanung von jetzt auf gleich komplett hinfällig wird, beschließt sie, das Physikum zu machen, jene unerbittlich schwierige Zwischenprüfung des Medizinstudiums. Acht bis zehn Stunden sitzt sie am Schreibtisch und büffelt. Gerade wartet sie auf das Ergebnis, holt Luft und Schlaf nach. „Mit Para Reiten kann ich kein Geld verdienen“, ist Gianna bewusst. Das Studium will sie schaffen – wenn auch nicht in der Regelstudienzeit.
Und sportlich? „Die Paralympics 2024 in Paris“, sagt sie und beinahe verdeckt ein Grinsen das Flackern in ihren Augen. Groß denken. Klotzen, nicht kleckern. Gerade wäre Gianna allerdings schon glücklich, wenn sie endlich wieder die weiße Reithose aus dem Schrank holen könnte. Die für die Turniere. „Immer wenn sie nach hinten rutscht, ziehe ich sie ein Stückchen nach vorn“, erklärt sie, „damit ich sie immer im Blick habe.“
Giannas Hilfsmittel:
Die querschnittsgelähmte Gianna Regenbrecht reitet mit Gewichts- und Zügelhilfen. Schenkelhilfen, für viele Reiter das A und O, kann sie nicht umsetzen. Ihre Beine fallen – übrigens lehrbuchmäßig – aus der Hüfte locker herunter, können aber keinen Druck ausüben. „Viele Pferde reagieren darauf beinahe erleichtert“, merkt Gianna an. Um Impulse zu geben, darf sie mit zwei Gerten reiten. Die speziellen Steigbügel verhindern ein Herausrutschen der Füße und sind zusätzlich am Gurt befestigt.
Zwei schmale Klettgurte, um die Hüfte am Sattel befestigt, sorgen für etwas mehr Halt und Gefühl im Sattel, wenn die Gangart schneller wird. Das war’s auch schon
mit Hilfsmitteln.