Lisa ist nicht oft stolz auf sich. Im Frühjahr 2020 ist einer dieser Momente. Noch ganz frisch fühlt es sich an, befreiend. Sie wirkt selbstsicher. Lisa hat geschafft, was vorher niemandem ihrer meist männlichen Vorgänger gelang – von ihrem Olympiasieg abgesehen. Sie hat den Technikteil ihrer theoretischen Meisterprüfung an der Handwerkskammer Dortmund mit der bisher nie erreichten Bestnote abgelegt. Wenn in der praktischen Prüfung die Zylinder knallen und der Motor einwandfrei losbollert, wird sie Zweiradmechatroniker-Meisterin sein. Lisa hat gefunden, wofür sie brennt.
„Durch den Sport habe ich den Ehrgeiz, immer die Beste zu sein“, sagt die Hernerin. „Das ist wie ein Feuerchen, das in mir lodert.“ Lisa war ein Jahrzehnt Leistungsruderin. Als Schlagfrau im deutschen Doppelvierer gewann sie zwischen 2014 und 2016 Gold bei der EM, bei der WM und bei den Olympischen Spielen in Rio. „Längst gegessen“, unterbindet sie jede Lobhudelei. Ihre Ausbilder werden allerdings nicht müde „unsere Olympiasiegerin“ hervorzuheben. Die Jungs in der Meisterschule nehmen es entspannt hin.
Verloren im Nebel
Im Frühjahr 2017 bestritt Lisa ihre letzte Regatta in Krefeld. Sie überquerte die Ziellinie wieder einmal als Erste, aber ihr Bauchgefühl sandte eine andere, eindeutige Botschaft: Du brauchst diesen Wettstreit mit anderen nicht mehr. „Krass“, dachte Lisa von sich selbst überrascht.
Schon nach den Sommerspielen in Rio hatte sich ansatzweise Ziellosigkeit breitgemacht. Der höchste sportliche Gipfel war erklommen. Die Zukunft nach der Leistungsportkarriere lag jedoch in Nebelschwaden. Womit sollte sie ihr Geld verdienen? Ruderer sind schnurgerade Bahnen gewohnt. Lisa wusste, sie hatte die Kurve nicht gekriegt.
„Mit 18 Jahren haben wenige Athleten einen Plan, was sie beruflich machen wollen“, sagt Lisa. Sie reihte sich nahtlos ein. Auf Anraten ihrer Trainer und Betreuer am Olympiastützpunkt Westfalen schrieb sie sich zunächst an ihrem Trainingsstandort Dortmund für ein Studium ein. Das versprach größtmögliche Flexibilität für Trainingszeiten und Wettkampfreisen. „Es war ein Alibistudium“, gibt sie zu. „Mein Fokus lag nie darauf, damit beruflich erfolgreich zu werden. Ich war Leistungssportlerin. Ich habe nicht nach rechts, nicht nach links geschaut.“ Den Studiengang Jura brach sie bald ab und wechselte zur Journalistik. Das Gefühl der Verlorenheit blieb.
Finales Fiasko in Rio
In Rio registrierten einige Journalisten, dass Lisa ihr Metier studierte. Um sich vor der Kamera zeigen zu können, verschafften sie ihr ein Interview mit dem Doppelvierer der Männer. Für ihre Kommilitonen wäre das ein Sechser im Lotto. Für Lisa war es ein Fiasko: „Ich musste extrem über meinen Schatten springen. Als Journalist muss man anderen Menschen auch mal auf die Nerven gehen. Das kann ich nicht und möchte ich nicht.“
Es wurde Zeit für einen Schlussstrich. Aber was dann? Sie lauschte jetzt ihrem Bauchgefühl. „Ich liebe Motorradfahren und wollte schon immer wissen, wie diese feinfühlige Technik funktioniert.“ Ein Tagespraktikum in einer Kfz-Werkstatt half, sowohl Meister als auch Sportlerin voneinander zu überzeugen. Im Herbst 2017 machte Lisa Nägel mit Köpfen und begann die Ausbildung zur Zweirad-Mechatronikerin. „Anders als im Studium, weißt du direkt, worum es geht.“
Vertrauen in Lisas Weg
Während ihrer Findungsphase blieb Lisa im Förderteam der Sportstiftung NRW. „Wir lassen Athleten nicht sofort fallen lassen, wenn sie mal nicht permanent Höchstleistungen zeigen“, erklärt Geschäftsführer Jürgen Brüggemann. „Wir sehen uns in der Verantwortung, Bundeskadersportler in eine berufliche Karriere nach der sportlichen Karriere zu begleiten.“ Fragt man Lisa, gelang das: „Ich habe das Vertrauen der Sportstiftung gespürt. Das hat mich abgesichert, richtig entschieden zu haben.“ Auch Ihr Heimatverein, der Crefelder RC, leistete bis ans Karriereende einen kleinen Unterstützungsbeitrag.
Die Lehre war eine Befreiung, eine psychische Entlastung. Dank Abitur und guten Zwischenprüfungen konnte Lisa die Ausbildung auf zwei Jahre verkürzen. Das neue Leben mit 450 Euro im Monat bei 40 Stunden Wochenarbeitszeit trotzte ihr Disziplin ab: „Das kann schon sehr demotivierend sein, aber als Azubi kannst du dir nicht viel rausnehmen.“ Ihre Eltern und ihr Freund unterstützten Lisa bei der Wohnungsmiete. „Außerdem brauche ich ohne das Rudern weniger Kalorien und muss nicht mehr dreimal täglich warm essen. Man entfernt sich schnell von der manchmal eintönigen Welt des Sports.“
Mehr Mut und gute Beratung
Das Studium war der Weg des geringsten Widerstandes. Lisa wollte den Anforderungen des Leistungssports bestmöglich gerecht werden. Sie spürte auch den Druck der Gesellschaft, sagt sie, mit Medaillen zu glänzen. Ihr Fokus war eindeutig, aber einförmig. „Mir fehlte kurz nach dem Abitur der Mut, den Weg einzuschlagen, der mir gefällt. Ich glaube, dass zwei bis drei Jahre Pause für die Ausbildung machbar gewesen wären. Das erfordert vorher jedoch eine gute Berufsberatung.“
Projekt Potenzialanalyse:
Um den Fokus bei der beruflichen Orientierung zu schärfen und die Persönlichkeitsentwicklung jugendlicher Leistungssportler zu fördern, hat die Sportstiftung NRW ein Pilotprojekt ins Leben gerufen. Das freiwillige Beratungsangebot richtet sich zunächst an alle Bewohner*innen der Sportinternate in Nordrhein-Westfalen, die bis 2022 das Abitur ablegen. Bei den Teilnehmern werden die Stärken, Verhaltenspräferenzen und Motive analysiert. Sie sollen objektiv reflektiert ihre persönlichen Möglichkeiten erkennen, um den Weg zu einem passenden Berufsbild zu finden. Die zweijährige Pilotphase startete im Oktober 2019. Das Projekt ist Teil der Qualitätsoffensive in den NRW-Sportinternaten.