Der Grat ist abenteuerlich schmal. Selbst Mittelstreifen auf der Autobahn sind breiter. Schlenker werden nicht toleriert. Ein Überholmanöver ist höchst unwahrscheinlich. Sarah Voss ist es dennoch passiert. Mehrmals. Sie kam von der Spur ab, stürzte und sah ihre Konkurrentinnen vorbeiziehen. Der Schwebebalken ist gnadenlos. Die Uhr ist es nicht minder. 90 Sekunden ticken für eine Kür runter. „Es sind eineinhalb Minuten, die über eine Karriere entscheiden können“, sagt Sarah.
Die Turnerin ist leidgeprüft. Kleine Defizite kosteten sie den Platz im Olympiakader für Rio. Sie erfuhr es zwei Tage vor Abflug. Die Koffer waren schon gepackt. Ihre bittere Enttäuschung münzte sie jedoch um in Kampfgeist. Vier Jahre danach sollte alles anders laufen für die amtierende Deutsche Mehrkampfmeisterin und FELIX-Newcomerin: „An mir soll keiner mehr vorbeikommen.“ Nicht auf dem Balken, nicht am Sprung – ihren beiden Paradedisziplinen. Die Corona-Pandemie machte diesen Plan vorerst zunichte.
Heimspiel bei den „Finals Rhein-Ruhr“
Eigentlich hätte ein drehbuchreifes Heimspiel auf Sarah gewartet. Bei den Deutschen Meisterschaften im Rahmen der „Finals Rhein-Ruhr“ in Oberhausen wollte sie ihre Titel verteidigen und zugleich das Olympiaticket lösen. Die Wettkämpfe wären der Auftakt des internen Qualifikationsprozesses für die deutschen Turnerinnen gewesen. Nur vier bilden das Turn-Team Deutschland bei den Olympischen Spielen. Sarah war optimistisch dazuzugehören.
Wie es sich anfühlt, wenn der eigene Name durch eine volle Arena schallt, weiß Sarah spätestens seit der WM in Stuttgart 2019, als die Dormagenerin in die Top Ten der Welt vorstieß. „Man spürt die Nähe zum Publikum viel mehr, wenn Familie und Freunde da sind“, sagt sie. Es kribbelt. Mindestens für 90 Sekunden am Stufenbarren, Sprung, Boden und Balken.
Abschied von ‚Kamikaze‘
Sarah hat hart an ihren Defiziten gearbeitet, auch mit einem Mentaltrainer. „Früher war ich der Typ ‚Kamikaze‘. Im Training Weltmeisterin, aber im Wettkampf zu hibbelig“, sagt sie. „Speziell am Balken hatte ich oft zu viel Energie.“ Bei der EM 2018 fiel sie dreimal herunter. Um ihrer Aufregung Herr zu werden, half künstlich erzeugter Stress. Regelmäßig forderten ihre Trainer, Shanna Poljakova und Pia Tolle und Yevgeniy Shalin, die Kür ein, als Sarah ihr Training eigentlich beendet hatte. Einturnen war verboten. „Man musste in diesem einen Versuch die antrainierte Routine abspulen“, erklärt sie.
Irgendwann beherrschte Sarah die Grundlagen ihrer Kür im Schlaf. Bei den Deutschen Meisterschaften folgte der Beweis unter Zeugen. „Ich fühlte mich wohl, war auf mich konzentriert und nicht zu verkopft.“ Die drei Titelgewinne überraschten die Fachwelt trotzdem. Nur Oksana Chusovitina hatte es kommen sehen. Die sechsfache Olympiateilnehmerin hatte das Abschlusstraining der 24 Jahre jüngeren, „echt fitten“ Sarah beobachtet und rief sie daraufhin als kommende fünffache Meisterin aus. Diese Lobpreisung der Turnveteranin heißt etwas, kapierte Sarah, holte Platz 1 im Sprung, auf dem Schwebebalken und schließlich im Mehrkampf. Und doch musste sie sich am Ende rechtfertigen. „Ich hatte doch fünf gesagt!“, gratulierte Oksana per Textnachricht, gefolgt von einem Zwinker-Smiley.
Kindheitsträume werden wahr
Freies Rad Spreiz, Abgang mit dreifach Schraube. Am Balken konnte Sarah ihr Repertoire aufstocken, höhere Schwierigkeitsgrade präsentieren. Die Einladung zum America‘s Cup, dem Gerätturn-Weltcup in Milwaukee, gab einen Motivationsschub. „Ein Kindheitstraum wurde wahr, das war eine riesengroße Ehre. Alle Idole – Nastia Liukin, Shawn Johnson, Simone Biles – sind aus diesem Wettkampf entsprungen“, schwärmt Sarah.
Biles hat bereits vier Turnelemente erfunden, die nach der US-Amerikanerin benannt sind. Am bekannteste ist der gehockte Doppelsalto rückwärts mit Dreifachschraube aus ihrer Bodenkür. Albern, findet Sarah die Vorstellung, einen „Voss“ zu kreieren: „Jede Turnerin hat unterschiedliche Voraussetzungen. Die eine turnt besonders elegant, die andere ist sehr dynamisch oder beweglich.“ Sarah ist groß. Mit 1,67 m ist sie die Größte im aktuellen Frauenturnteam Deutschland. „Ich habe erkannt, was für mich machbar ist. Ein eigenes Element rückt da in weiter Ferne.“
Die Laufbahn der gebürtigen Frankfurterin nahm am Leistungszentrum Wetzlar Fahrt auf. Sarah war fünf. Dort kreuzte sich ihr Weg zum ersten Mal mit Fabian Hambüchen. Jahre später trafen sich beide am Turnzentrum der Deutschen Sporthochschule Köln wieder. Sarah verfolgte, wie Hambüchen Olympiasieger wurde (2016, am Reck). „Ich schätze Fabian sehr, weil er nahbar geblieben ist und gerne seine Erfahrungen teilt“.
15 Jahre lang gedieh die junge Karriere auf internationalen Wettkampfbühnen. Neben 25 bis 30 Wochenstunden Leistungssport legte Sarah ein Einser-Abitur am Norbert Gymnasium Knechtsteden in Dormagen ab. Jetzt studiert sie an einer Fernuni BWL & Management. „Wir haben das Training um die schulische Ausbildung herumgebastelt “, erklärt sie. In den USA sei es umgekehrt und mit zwei Stunden online home learning pro Tag getan. Ausschlaggebender sei jedoch: „Die US-Turnerinnen haben nach Olympia ausgesorgt. Für uns ist das nicht vorstellbar.“
Jahrelanger Fleiß für wenige Sekunden
Eine neue Boden-Choreographie kostet die Studentin etwa 500 Euro aus eigener Tasche. Schnell vierstellig sind die Beträge für ebenso notwendige Akrobatik- und Sprungschulungen. Die Sportstiftung NRW unterstützt die Kaderathletin mit einer monatlichen Förderung von 300 Euro. Der neue Stufenbarren für die Trainingshalle in Köln konnte zusammen mit Förderpartnern wie der Volker Staufert Stiftung und dem Rheinischen Turnerbund realisiert werden. Der Barren ist weicher, schonender und mit seinen Eigenschaften dem Wettkampfgerät von Tokio ähnlicher. Vorerst ist aber wieder Kampfgeist gefragt, ehe der olympische Traum 2021 Realität wird und 12.000 Zuschauer im Ariake Gymnastic Center von Tokio Sarahs Kür bejubeln. Dann ticken wieder die Sekunden, die über eine noch größere Karriere entscheiden könnten.