Richtig klassifizieren für mehr Chancengleichheit
Sara Grädtke ist seit Anfang 2020 die erste festangestellte Klassifiziererin für Para Leichtathletik in NRW. Die Leverkusenerin profitiert dabei von ihrer Arbeit als Physiotherapeutin und Trainerin – und möchte für mehr Chancengleichheit im paralympischen Sport sorgen.
Das von der Sportstiftung geförderte Pilotprojekt soll künftig auf viele weitere Para Sportarten ausstrahlen.
Text: Nico Feißt, Fotos: Mika Volkmann
Fast zehn Jahre arbeitete Sara Grädtke als Physiotherapeutin und kam durch den Job auch nach Leverkusen. Damals hätte sie sich vermutlich noch nicht ausmalen können, wie ihre weitere berufliche Karriere verläuft. Mittlerweile arbeitet Grädtke nämlich als Trainerin für Para Leichtathletik beim TSV Bayer 04 Leverkusen – und neuerdings auch mit einer von der Sportstiftung NRW finanzierten halben Stelle als Klassifiziererin für den Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen e.V..
Grädtke scheint für diese Stelle die optimale Besetzung zu sein. Neben ihrem physiotherapeutischen Background bekommt sie täglich als Trainerin die Praxis mit: Sie leitet in Leverkusen die „#HappyParaKids“- und die „#FitMitOhneProthese“-Gruppe für alle Sportbegeisterten, die sich fit halten wollen. Zudem trainiert sie unter anderem Johannes Bessell, der 2018 in Berlin bei der Europameisterschaft Bronze über 1500 Meter gewonnen hatte und nun im Marathon auf die Qualifikation für die Paralympics 2021 in Tokio hofft.
„Ich persönlich finde den Mix mega gut“, sagt Grädtke, die als Klassifiziererin Athletinnen und Athleten in ganz NRW testet und vermisst. Als Klassifizierungsbeauftragte der deutschen Para Leichtathletik unterstützt sie zudem bundesweit bei Fragen: „Es hat eigentlich nur Vorteile: Als Trainer ist es hilfreich, über die Thematik Bescheid zu wissen und dadurch seinen Athleten eine gute Perspektive bieten zu können. Und die Erfahrung als Trainerin hilft bei der Klassifizierung zur Überprüfung der funktionellen Aspekte, ob die Funktion zur Klasse passt.“
„Ein Prädikat für das paralympische Zentrum NRW“
Klassifizierung ist im paralympischen Spitzensport ein großes Thema, um die Leistungen trotz der körperlichen Unterschiede vergleichbarer zu machen und allen Teilnehmenden die größtmögliche Chancengleichheit zu ermöglichen – gleichzeitig soll es aber nicht zu viele Klassen geben, um weiterhin attraktive Wettbewerbe mit ausreichend Teilnehmenden zu gewährleisten.
In der Para Leichtathletik gibt es fünf Behinderungskategorien: Sehbehinderung, intellektuelle Beeinträchtigung, Zerebralparese, Amputierte/Les autres und Rückenmarksverletzungen. Je größer die Klassennummer, desto geringer ist der Grad der Behinderung. Zudem wird der Nummer der Buchstabe T für Track, also Bahn- und Sprungdisziplinen, oder F für Field, also technische Disziplinen, vorangestellt. Doppelt unterschenkelamputierte Sprinterinnen und Sprinter sind beispielsweise in der Klasse T62.
„Die Klassifizierungsstelle für Athletinnen und Athleten ist unabdingbar, um den paralympischen Leistungssport in NRW nachhaltig und zielgerichtet weiterzuentwickeln“, sagt Jürgen Brüggemann, Geschäftsführer der Sportstiftung NRW, der mit der Initiative für eine feste Talentscout-Stelle bereits erfolgreich zukunftsweisende Wege beschritten hat: „Ausgehend von der Para Leichtathletik sind wir bestrebt, dass dieses Projekt mit unserer Förderung auf viele weitere Sportarten ausstrahlt. Es ist ein Prädikat für das paralympische Zentrum NRW.
Fehlinformationen? „Ein absolutes No-Go“
Grädtke war schon von Anfang an fasziniert von der Klassifizierung: „Ich liebe es, die Tests durchzuführen und die Athleten zu vermessen und fand es schon immer spannend zu sehen, wer in welcher Klasse starten darf und wer nicht.“ Schließlich kommt es immer wieder zu gefährlichem Halbwissen, dass jungen Athletinnen und Athleten ohne Überprüfung gesagt wird, dass sie in dieser und jener Klasse seien – was am Ende manchmal nicht stimmt: „Das ist in meinen Augen ein absolutes No-Go, denn wenn man falsch liegt, kann das ziemlich schwerwiegende Folgen für die Athleten haben.“ Einige Disziplinen wie Diskuswurf werden in der Para Leichtathletik nämlich nur in gewissen Klassen angeboten: „Wenn der Athlet dann in der falschen Klasse ist und im schlimmsten Fall die falsche Disziplin trainiert, ist das schon etwas bedauerlich, weil ja potenzielle Teilnahmen dadurch nicht mehr möglich sind.“
Immer wieder wundert sich Grädtke über Einschätzungen und auch bestätigte Klassifizierungen – national wie international: „Manchmal kann man da agieren, aber in den meisten Fällen leider nicht.“ Eine der bekanntesten Klassifizierungsdebatten der vergangenen Jahre war jene über die Prothesenlängen bei den amputierten Sprinterinnen und Sprintern. Nach einer neuen Formel, mit der die Prothesenlänge proportional besser zum Körper passen soll, hätten die Prothesen von einigen der Top-Athleten mehr als 15 Zentimeter kürzer werden müssen, um weiter teilnehmen zu dürfen.
„Teil dieser Entwicklung zu sein, ist einfach klasse“
Der Einstieg in den Trainerbereich gelang Grädtke übrigens durch Johannes Floors, den heute schnellsten Sprinter der Welt auf Prothesen. Sie war seine erste Trainerin im paralympischen Sport: „Die Arbeit mit Johannes hat mich sehr geprägt, ihm verdanke ich eine turbulente Saison und den emotionalsten sportlichen Moment meiner Karriere, als er als erster deutscher amputierter Athlet die 400 Meter unter 50 Sekunden gelaufen ist.“
Doch nicht nur die Top-Leistungen haben es Grädtke angetan, generell brennt sie für den Sport von Menschen mit Behinderung: „Es bedeutet mir sehr viel und es ist beeindruckend, was die Athleten trotz oder besser gesagt mit Handicap leisten. Es macht mir unheimlich viel Spaß, den Kindern und Anfängern beim Laufen zuzusehen. Wenn die Neuankömmlinge das erste Mal laufen, ist es ein unbeschreibliches Gefühl. Teil dieser Entwicklung zu sein, ist einfach klasse.“
Sie selbst probiert aktiv neue Trendsportarten wie Ultimate Frisbee gerne aus, geht mit ihren Gruppen zum Kampfsport oder trainiert Stabhochsprung mit ihnen – obwohl letzteres gar nicht paralympisch ist: „Ich finde es super wichtig, alles auch selber mal zu testen, um zu sehen, wie sich das auswirkt und ob es überhaupt umsetzbar ist für Para Sportler.“
TSV Bayer 04 Leverkusen
sara.graedtke@tsvbayer04.de
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