Zwillingskarriere & Deutschlandstipendium

18 Stunden powern bis Corona

Aufstehen um halb sechs, Freizeit ab halb elf. Leistungssportler haben keine Zeit, sofern sie nicht von außergewöhnlichen Umständen ausgebremst werden. Training, Wettkämpfe, Ausbildung oder Studium spannen ein. Nebenbei noch Geld für die Bude, Ausrüstung oder Wettkampfreisen zu verdienen, zehrt auf. Wir zeigen einen Tag von Wasserballer-Nationalspielerin Ronja Kerßenboom vor und während der Corona-Krise.

30.03.2020 | Sebastian Burg
Wasserballtorhüterin Ronja Kerßenboom wehrt Wurf ab

Ronja, 23, hütet das Tor der Wasserball-Nationalmannschaft und spielt in der Bundesliga für den SV Bayer Uerdingen. Sie ist Master-Studentin an der Universität Duisburg-Essen und arbeitet als Werkstudentin bei einem Pharmaunternehmen in Neuss.

Ronjas Tagesablauf – normalerweise und während Corona:

5:35 Uhr – Der Wecker klingelt nach durchschnittlich 6 Stunden Schlaf. Fünf Minuten im Schlummermodus sind drin, bevor der zweite Wecker klingelt.

6:15 Uhr Coronazeit – Der Wecker klingelt nach gut 8 Stunden Schlaf trotzdem noch früh, um im Rhythmus zu bleiben. Erster Gang ins Bad. Normale, Webcam-taugliche Klamotten anziehen.
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5:40 Uhr – Der erster Gang führt in die Küche. Frühstück vorbereiten. Es gibt Müsli aus Obst und Haferflocken. Gegessen wird erst nach dem Frühtraining, damit nichts im Magen liegt.
5:50 Uhr – Ins Bad. Zähneputzen, in den Badeanzug schlüpfen, Jogginganzug drüberziehen. Dabei Muskelkater und schwere Beine ignorieren.
6:00 Uhr – Beladen mit Arbeitsklamotten, Laptop und Sporttasche ins Auto steigen.
6:15 Uhr – Ankunft im Aquadome Krefeld. Ins „ziemlich kalte“ Wasser springen und spätestens jetzt wach sein. Diese Prozedur dreimal wöchentlich wiederholen.

6:45 Uhr Coronazeit – Arbeitsbeginn im Homeoffice. „Mein Arbeitgeber war gut vorbereitet und die Mitarbeiter geübt in den digitalen Kommunikations-Tools. In einem Pharmaunternehmen bekommt man viel mit von der Entwicklung von Impfstoffen.“
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Bis 7:15 Uhr – Individuelles Schwimm- und Schusstechniktraining für Torfrauen. Nicht deprimiert sein, wenn um diese Uhrzeit mal etwas nicht klappt. Die psychische Höchstleitungsfähigkeit wird erst im Laufe des Tages erreicht, sagt der Trainer.
7:15 Uhr – Duschen und umziehen fürs Büro. Keine Zeit zum Föhnen, kein Make-up, da abends wieder Wassertraining.
7:30 Uhr – Abfahrt zum Arbeitsplatz in Neuss. 45 Minuten durch die rush hour auf der A57. Ohne Auto dauert es dreimal so lange.
8:15 Uhr – Vom Parkplatz zum Kaffeeautomaten laufen, einen Latte Macchiato ziehen und je nach Intensität des Muskelkaters ins Büro im dritten Stock laufen oder fahren.
8:20 Uhr – PC an, E-Mails und Termine checken, nebenbei Müsli und Kaffee frühstücken. Meeting vorbereiten.

8:45 Uhr Coronazeit – Der „Kaffee-Call“, Videokonferenz mit den Kollegen. Dazu Müsli und Tee zum Frühstück. „Seit Corona habe ich kein Bedürfnis mehr nach Kaffee als Wachmacher.“
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9:00 Uhr – Zum Meeting. Heute: Studien für die Marktzulassung von Medikamenten mit dem Team besprechen und Dossier-Arbeit erledigten.
10:30 Uhr – Zurück im Büro. Meeting nachbereiten.
11:30 Uhr – Mittagspause mit Kollegen in der Kantine. Danach Salat und Obst einpacken, um bis zum Abendtraining durchzuhalten.
12:00 bis 17:30 Uhr – Arbeiten im Büro. Müdigkeitstief überwinden.

16:00 Uhr Coronazeit – Laptop zu, Feierabend. Das Arbeitsaufkommen ist gleich geblieben.
16:30 Uhr – Joggingrunde zum gesperrten Aquadome Krefeld (8-10 km). Auspowern mit Sprints zwischendurch.
17:30 Uhr – Anschließend Zuhause: viel Bauchmuskeltraining, Squads, Schultern-Stretching, Yoga – jede Mitspielerin trainiert erstmal in Eigenregie. „Wir wollen nicht wie Steine ins Wasser fallen, wenn die Saison irgendwann weitergeht.“ Problem: Das Wassergefühl geht schnell verloren. „Wasserwiderstand lässt sich nicht simulieren. Einen Privatpool besitzt niemand von uns.“
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17:30 Uhr – Abfahrt zum Krafttraining nach Krefeld oder als Ausgleich einmal pro Woche zum Yoga vom Betriebssport.

18:00 Uhr Coronazeit – Duschen, Abendessen zu zweit.
18:30 Uhr – Lernen fürs Fach Gesundheitsökonomie. Der Klausurtermin an der Uni wurde verschoben, ein neuer ist noch offen.
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18:30 Uhr – Vor dem Zirkeltraining Beine und Gelenke nach dem Bürotag gut aufwärmen. Dann Kniebeugen und Ausfallschritte mit der Langhantel.
19:20 Uhr – Fliegender Wechsel ins Wasser. Spieltaktiken üben: Über- und Unterzahl, Konterschwimmen, Torwarttraining mit Gewichtgürtel (2 kg) und extra schweren Bällen.

19:30 Uhr Coronazeit – Couch- und Lesezeit. Aktuelle Lektüre: „Irren ist nützlich“ über die Vorteile einer mentalen Fehlerkultur.
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21:00 Uhr – Ausschwimmen, unter der Dusche dehnen und mit Mitspielerinnen quatschen.
21:30 Uhr – Ankunft zu Hause. Nasse Klamotten aufhängen und Taschen für den nächsten Tag packen – „das ist nervig!“. Abendbrot machen.
21:40 Uhr – Dem Freund auf dem Sofa hallo sagen. Nach dem Essen an der Hausarbeit fürs Studium in Medizin-Management tüfteln.

ca. 22:15 Uhr Coronazeit – Gute Nacht! Der Tag endet nach 16 Stunden.
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22:30 Uhr – Freizeit. Waschen und Lernen wird aufs Wochenende verschoben.
ca. 23:30 Uhr – Gute Nacht! Ronjas Tag endet nach 18 Stunden. Morgen auf ein Neues

Update:

Ronjas Auftritt beim Captains Day der Sportstiftung

Im September kommt die Belastung geballt zurück. Die unterbrochene Saison soll fortgesetzt werden und im Job steigt die Werkstudentin zur Vollzeitkraft auf. Ronjas Tage werden voller als zuvor. Sie sagt: „Ich packe das!“

Der Wecker klingt wieder um kurz nach halb sechs. Vor der Arbeit fährt Ronja zum Frühtraining. Die Mannschaft muss wieder in Form kommen. „Die aktuellen Defizite im Zusammenspiel und im taktischen Bereich waren unvermeidbar“, erklärt Ronja. Nach dem Lockdown durften die Spielerinnen zunächst vereinzelt das Schwimmtraining wiederaufnehmen. Im Juli bekam jede einen Ball, Passspiel oder Würfe auf den Kasten von Torfrau Ronja blieben aber verboten. „Wir mussten unsere Bälle sogar vor dem Training im Wasser desinfizieren.“

Ob und wie lange Ronja tatsächlich spielt, ist aus einem weiteren Grund unsicher. Die deutsche Nationaltorhüterin hat starke Konkurrenz bekommen. Brasiliens Top-Torfrau, Victoria Chamorro, ist von Berlin nach NRW umgezogen, hat beim SV Bayer angeheuert und beansprucht Spielzeit. „Ich nehme das als Ansporn, im Training noch mehr Gas zu geben und will die Chance ergreifen, von ihr zu lernen“, gibt sich Ronja kämpferisch.

Aufstieg zu Vollzeit

Richtig reingehauen hat die 23-Jährige während der Corona-Pause als Werkstudentin in ihrem Pharmaunternehmen. Dort stieg sie 2019 mit einem Praktikum ein, zu dem ihr die Sportstiftung NRW die Tür öffnete. Ab September wird Ronja unbefristet und in Vollzeit übernommen. Ihr Studium liegt in den letzten Zügen. „Durch das Deutschlandstipendium der Sportstiftung NRW hatte ich trotz Corona finanzielle Sicherheit für meine berufliche Ausbildung.“ Die Masterarbeit wird sie sich ab Oktober vornehmen, berufsbegleitend bei ihrem Arbeitgeber. Dann starten auch die Play-offs in der Wasserball-Bundesliga.

„Durch Corona hatte ich in den vergangenen Monaten zwar mehr Zeit vom Tag, habe viel geschafft und konnte gefühlt auch einmal durchatmen“, resümiert die Athletin. „Ich packe aber auch Leistungssport und Beruf, weil ich mir sicher bin, dass mit der richtigen Planung Synergien entstehen, von denen ich und mein berufliches sowie sportliches Umfeld profitieren können.“

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