Sportförderung
4276 Staub aufwirbeln

Dicker Staub bedeckt die vollkommene Leere. An diesem Morgen begegnen sich Schlüssel und Schloss. Passt. Eine Wolke wirbelt auf. Über das große Fenster klettern Bau- und Straßenlärm in den ersten Stock und füllen das Nichts. „Ich habe mich schon gefragt, was ich mir da angetan habe“, sagt Jürgen Brüggemann. Die erste Amtshandlung des neuen Geschäftsführers ist putzen.

Ein paar Stühle und Schreibtische später, ziehen 44 Aktenordner in das karge Büro ein. Gelegentlich verschluckt das einsame, aber lauthallende Telefon die Sanierungsarbeiten in der ehemaligen belgischen Kaserne im Kölner Westen. Manchmal ist es umgekehrt, wenn der Bohrer die elektrische Leitung erwischt. Der Sommer kommt früh und mit Wucht. „Wir haben geschwitzt wie die Hunde“, erinnert sich Brüggemann.

Sydney, Merkel, Pokémon

Von der ersten Geschäftsstelle der Sportstiftung NRW an der Dürener Straße existieren keine Fotos. Niemand kam auf die Idee, die archaische Zettelwirtschaft mit der Welt zu teilen. Auch, weil fähige Smartphones noch auf sich warten ließen. Angela Merkel ist gerade erst zur CDU-Chefin aufgestiegen und Pokémons erobern die Kinderzimmer. Am anderen Ende der Welt in Sydney werden die Olympische Spiele gefeiert, Team Deutschland ist mäßig erfolgreich. Als in der Staatskanzlei Düsseldorf die Geburtsurkunde der Sportstiftung NRW unterzeichnet wird, neigt sich das Jahr 2000 bereits dem Ende. Dann ist Weihnachten. Bis zum Frühling gehen die ersten 44 Förderanträge ein.

Staub aufwirbeln

Um die Jahrtausendwende boomen Stiftungen. In mehreren Bundesländern entstehen Initiativen zur Förderung des Sports. Die Gründung der Sportstiftung NRW ist ein Novum. Die Landesregierung stattet ihren Sprössling mit zehn Millionen Deutsche Mark Startkapital aus. Diese finanzielle Impulskraft sucht ihresgleichen in Deutschland.

Der Auftrag ist klar: Staub aufwirbeln. Die Qualität des Leistungssports in Nordrhein-Westfalen soll steigen. Die Sportstiftung NRW wird das Instrument, um fehlende Strukturen aufzubauen und die vorhandenen systematisch zu professionalisieren. Sie soll Perspektiven für Sportarten und Nachwuchsathlet*innen schaffen und sie an internationales Spitzenniveau heranführen. Gespeist wird die Sportstiftung zunächst aus Konzessionsabgaben der neuen Sportwette ODDSET.

Genehmigungsurkunde der Sportstiftung NRW vom 21.12.2000
Genehmigungsurkunde der Landesregierung vom 21. Dezember 2000

Alles Hands-on

„Wir haben uns gefühlt wie ein Start-up mit Absicherung“, erzählt Jürgen Brüggemann. „Alles bei der Sportstiftung NRW entstand immer mit einer Hands-on-Mentalität.“ In den ersten Monaten ist der Geschäftsführer der einzige Angestellte: „Ich habe unentgeltlich gearbeitet, einfach, weil ich noch nicht wusste, wie man Gehälter überweist.“

Brüggemann war 15 Jahre Sportlicher Leiter beim RTHC Bayer Leverkusen und A-Trainer beim Westdeutschen Hockey-Verband. Ab Sommer 2001 steht ihm mit Paul Stoppelkamp zur Seite. Der Betriebswirt kommt von der NRW-Stiftung. Anke Denecke übernimmt die Assistenz, später die Büroleitung.

Das erste Quartier ist eine Übergangslösung. Das zweite auch. Nach wenigen Monaten zieht die Geschäftsstelle in einer Hauruckaktion an den Olympiastützpunkt Rheinland um. Ordner und Schreibtische wandern übers Wochenende „hands-on“ in die siebte Etage. Dort gibt es sogar zwei Telefonanschlüsse.

Pulsuhr bis Skisprunganlage

Im ersten Jahr gehen 150 Förderanträge ein. Viele Landesfachverbände benötigen dringend qualifizierte, professionelle Trainer. Im Bundesvergleich liegt NRW unter dem Durchschnitt. In Sportinternaten und an Stützpunkten fehlen Fachkräfte in den Bereichen Prävention, Pädagogik und Wissenschaft. Es werden Fördermittel für Pulsuhren, Ruderboote, eine Skisprunganlage und andere Trainingsmaterialien beantragt. Die Mischung im Briefkasten ist bunt.

Im Gegenzug verlangt die Sportstiftung ausgereifte Konzepte und realistische Zielsetzungen, die nachhaltig Mehrwert für den Leistungssport in NRW versprechen. Mit dieser strikten Ausrichtung legt sie den Grundstein für viele, heute etablierte Einrichtungen wie den Bundesstützpunkt für Säbelfechten in Dormagen oder das Mädchenfußballinternat in Kamen. Brüggemann: „An solchen regionalen, vereinsübergreifenden Zentren des Spitzensports haben auch Talente aus kleinen Vereinen die Chance, intensiv gefördert zu werden und sich im Sportland NRW bis zum A-Kader zu entwickeln.“ NRW hatte Nachholbedarf.

Erstmals fördert eine Landeseinrichtung auch Bundeskader-Sportler.

Blockierte Copyshops

Gemeinsam mit ihren Partnern, dem Landessportbund NRW, den Landesfachverbänden und Olympiastützpunkte sowie dem Deutschen Sportbund und seinen Spitzenfachverbände erarbeitet die Sportstiftung NRW Lösungen.

Den Antragsstellern wird viel abverlangt. Vorstandssitzungen sind eine Papierschlacht. Die Geschäftsstelle schnürte dicke Pakete, damit Gutachter und Vorstand fundierte Beschlüsse fassen können. Das Büro ist mit Ordnern gekachelt. Kopierer laufen heiß, Kölner Copyshops werden zeitweise vollständig blockiert. Im ersten Jahr bewilligte der erste Vorstand um seinen Vorsitzenden Staatssekretär a.D. Dr. Hans Jürgen Baedeker rund 1 Mio. Euro Fördermittel. Heute können Anträge ausschließlich digital über das Portal DokuMe gestellt werden.

Revolution für den Nachwuchs

Die Trainerförderung macht in den Anfangsjahren das Gros der Förderaktivität aus. Die Zahl der Hauptamtlichen verdoppelt sich bis 2005 auf 100 Trainer, bis 2008 verdreifacht sie sich. 2017 übergibt die Sportstiftung Personalstellen im Wert von 2,5 Mio. Euro an den Landessportbund NRW. Im Sommer laufen die letzten Fördervereinbarungen aus, auch die für Anja Löhr. Die Reha- und Athletiktrainerin war vor 20 Jahren die erste hauptberufliche Kraft, die sich am Olympiastützpunkt Rheinland sportartübergreifend um Kaderathlet*innen kümmert. „Wir schieben Pilotprojekte an, die dann in eine Regelfinanzierung übergehen – das ist unser Stiftungscharakter“, sagt Brüggemann. 

Im Jahr 2002 beginnt die gezielte Förderung einzelner Athlet*innen. Aussichtsreiche Kandidat*innen für die Olympischen Spiele in Athen erhalten von der Sportstiftung NRW monatlich 250 Euro. Auf ihren Outfits tragen sie das neu kreierte Logo ihres Förderers.

Das Revolutionäre geschieht jedoch unterhalb des Olymps. Dort klafft eine Lücke. Landesverbände fördern ihre Talente bis zum Alter von etwa 16 Jahren. Der Bund übernimmt, wenn sie es in den C-Kader schaffen (heute NK1). In der Regel sind sie dann 20. Dieser Anschlussbereich „kränkelt“, ist ein Problembereich. „Für die Jahrgänge dazwischen, den Nachwuchs im D-/C-Kader, fühlte sich niemand zuständig“, erklärt Jürgen Brüggemann. Die Sportstiftung NRW beschließt, die Schnittstelle zu besetzen, um das Manko im Fördersystem auszumerzen.

Erstmals steigt eine Landeseinrichtung in die Förderung von Bundeskader ein. Nachwuchskader machen inzwischen 60 Prozent aller geförderten Athlet*innen der Sportstiftung aus.

Das Epizentrum des Sports

Die Jungen werden bald von den Großen flankiert. 2004 bilden Olympiasieger*innen und Sportikonen den Botschafterkreis. Die ersten sind Heide Ecker-Rosendahl, Dr. Arnd Schmitt und Christian Keller, Isabell Werth, Heribert Faßbender und Michael Skibbe. Im selben Jahr sind sie im Sport- und Olympiamuseum in Köln zu Gast, um ihren olympischen Nachfolgern zu huldigen. „Mit der Organisation unserer ersten Medaillenfeier nach den Spielen in Athen hatten wir uns fast übernommen“, sagt Brüggemann. „Wir waren zu viert. Die Veranstaltung stand kurz vor dem Scheitern.“ Doch es gelingt. Zum ersten Mal erhalten alle Medaillengewinner*innen aus NRW eine Prämie von der Sportstiftung NRW und können sich feiern lassen.  

Als die Deutsche Sporthochschule in Köln ihr Institutsgebäude II einweiht, findet die Sportstiftung NRW ihr heutiges Zuhause auf dem Campus. Nun ist sie auch räumlich im Epizentrum des Leistungssports angekommen. Nirgendwo sonst in Nordrhein-Westfalen sind Olympiastützpunkt, Sportinternat, Trainerakademie und Forschungseinrichtungen so konzentriert beisammen. Leistungssport wird gelebt. Hier hat Staub keine Chance, sich festzusetzen.

Für die Jahre 2001 bis 2004 hat die Sportstiftung NRW 10,5 Millionen Euro für innovative Förderprogramme im Nachwuchsleistungssport bewilligt. Für neu geschaffene Trainer- und Erzieherstellen stellt die Sportstiftung NRW Zuschüsse in Höhe von 7,2 Mio. Euro bereit

Erste Botschafter der Sportstiftung NRW 2004 mit Ministerpräsident Peer Steinbrück, Heide Ecker-Rosendahl, Heribert Faßbender, Arnd Schmitt, Christian Keller, Michael Skibbe
Ministerpräsident Peer Steinbrück empfing 2004 die ersten Stiftungbotschafter, von rechts: Michael Skibbe, Christian Keller,Dr. Arnd Schmitt, Heribert Faßbender und Heide Ecker-Rosendahl.
Das erstes Logo bestand bis Ende 2020.
Medaillenfeier 2004 im Sport- und Olympiamuseum in Köln. Die Hockeydamen gewinnen in Athen Gold. Mitte: Michael Vesper, später Generaldirektor des DOSB.

Mehr Lesestoff

Categories: Story Schlagwörter: , , , , , , | Comments 4240 Tagsüber Rechtsmedizin, abends Sitzvolleyball

Den Wunsch, Rechtsmedizinerin zu werden, hatte Ronja Schmölders schon früh. Im ZDF lief „Der letzte Zeuge“ und nur der Gerichtsmediziner verstand die Sprache der Toten so gut, dass er sagen konnte, ob es ein Unfall oder Mord war. Ronja war fasziniert, ihr Traumberuf stand fest. Sie las vieles über die Arbeit eines Gerichtsmediziners. Da ein Berufspraktikum in der Schulzeit nicht möglich war, absolvierte sie dieses beim Bestatter, „um zu gucken, ob der Umgang mit Verstorbenen für mich in der Praxis überhaupt etwas ist.“

Als 13-Jährige wurde bei Ronja Knochenkrebs diagnostiziert. Seither lebt sie mit einer Umkehrplastik.

Nahezu parallel zum Berufswunsch entwickelte sich ihre Karriere im Sitzvolleyball. Mit 15 Jahren entdeckte sie die Sportart beim TSV Bayer 04 Leverkusen und wurde schnell auch zur Nationalmannschaft eingeladen. Als Kind hatte sie Fußball gespielt, kletterte und ging Reiten – nach der Operation ging das nicht mehr. Aber Sitzvolleyball war optimal, um sich auszupowern. Für die Paralympics-Teilnahme reichte es allerdings nicht. Mit zwei fünften Plätzen bei den Europameisterschaften 2009 und 2011 und Platz sechs bei der WM 2010 verpasste Ronja mit der deutschen Damenmannschaft knapp die Qualifikation. Ronja durfte die Atmosphäre dennoch vor Ort erleben: Mit dem Projekt „Excellence“ des Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen jubelte sie in London live mit, als die Sitzvolleyball-Herren Bronze holten. 2015 beschloss sie unter anderem aufgrund des Studiums, erst einmal mit dem Sitzvolleyball aufzuhören – ein neuer Lebensabschnitt begann.

Rio 2016 im Fernsehen

In ihrem Medizinstudium an der HHU in Düsseldorf absolvierte sie mehrere rechtsmedizinische Praktika. Dies bestärkte sie umso mehr in ihrem Berufswunsch. Aktuell schreibt sie ihre Doktorarbeit in der Rechtsmedizin. „Der menschliche Körper fasziniert mich . Nirgendwo sonst ist man so nah an der Anatomie“, sagt Ronja. „Man darf Verstorbene aber auch nicht nur wissenschaftlich betrachten. Hinter jedem Leichnam steckt eine Geschichte, stehen Angehörige, die jemand Nahestehendes verloren haben. Den gebührenden Respekt darf man nie verlieren.“ Als Rechtsmedizinerin arbeitet Ronja aber nicht nur mit Verstorbenen und untersucht Knochenfunde. Sie hat auch mit Menschen zu tun, die in die Gewaltopferambulanz des Krankenhauses kommen. Sie sichert dann Spuren von Gewalttaten, dokumentiert diese gerichtsfest mit Fotos und Skizzen und fertigt Gutachten an.

„Wir wollen langfristig eine Medaille bei einem großen Turnier.“

Professioneller und schwungvoll zurück

Während ihre berufliche Karriere durch das Studium immer weiter voranschritt, spielte der Volleyballsport kaum noch eine Rolle in ihrem Leben. Die Paralympics 2016 sah Schmölders im Fernsehen, als sie fürs Physikum lernte. Erst 2018, als ihre slowenische Freundin Lena Gabrscek sie bei einem Slowenien-Besuch mit zum Training nahm, kam Bewegung in die Sache. „Irgendwie hat mein Trainer Robert Grylak in Leverkusen mitbekommen, dass ich wieder gespielt habe und mich zum Essen eingeladen. Einfach zum Quatschen, wie er sagte – doch dann hat er den Kalender auf den Tisch gelegt.“ Ronja wollte wieder spielen, aber nur im Verein. Bis der neue Nationaltrainer Christoph Herzog sie vor dem Zühlsdorf-Cup einlud, der neu aufgestellten Damen-Nationalmannschaft zuzuschauen. Es hieß, „sie könne ja auch Sportsachen mitbringen“ . Fortan war Ronja wieder im Nationalteam dabei.

„Mir gefiel, dass alles professioneller war, das kannte ich so nicht“, sagt sie über den neuen Schwung in der Nationalmannschaft: „Wir wollen Spaß haben, aber auch etwas erreichen – langfristig die Paralympics oder eine Medaille bei einem großen Turnier.“ 2019 wäre es fast soweit gewesen, doch beim Qualifikations-Turnier in Kanada verpasste das Team die Paralympics in Tokio denkbar knapp.

Inzwischen ist Kapitänin Schmölders im Nationalteam eine feste Größe, die kaum wegzudenken ist, doch sie wiegelt ab: „Ich brauche schon Angreiferinnen, die meine Zuspiele verwerten können.“ Mit Sonja Scholten hat sie hier eine weitere Leverkusenerin als Angreiferin in der Nationalmannschaft dabei: „So können wir in Leverkusen Spielzüge üben und wissen blind, wo die andere ist. Das ist sehr hilfreich auf und neben dem Feld – auch weil man bei Reisen zu Trainingslagern in Brandenburg oder Sachsen nicht die einzige Doofe ist, die aus NRW anreisen muss“, sagt Ronja.

Ronja (vorne) wird von der Sportstiftung NRW als eine acht Athlet*innen von der Heinrich-Heine-Universität mit einem Deutschlandstipendium gefördert.

Paralympics-Teilnahme ist aktueller denn je

Für das Ticket für Paris 2024 sollen gute Ergebnisse bei der EM im Oktober in der Türkei und dann auch bei der WM 2022 in China her. „Wenn das nicht klappt, müssen die Paralympics halt auch mal in Deutschland stattfinden, dann wären wir als Gastgeberinnen gesetzt“, sagt sie schmunzelnd.

Seit November ist Ronja Schmölders anerkannte Ärztin und arbeitet inzwischen in der Düsseldorfer Rechtsmedizin, ein wahrer Glücksgriff, was den Standort angeht. „Jetzt fängt an, wofür ich sechs Jahre gearbeitet habe.“ Täglich pendelt sie zwischen dem Wohnort in Mülheim an der Ruhr, der Arbeitsstelle sowie dem Balltraining in Leverkusen. „Da bin ich der Sportstiftung NRW sehr dankbar, dass sie mich finanziell unterstützt“, sagt die Athletin, die mit einem Gerücht aufräumt: Als Gerichtsmedizinerin fährt sie zwar auch zu Tatorten – das passiere aber nicht jeden Sonntagabend um 20.15 Uhr. „Krimis gucke ich trotzdem gerne, da passiert dann aber durchaus mehr als in der Realität.“ Ganz abschalten kann sie dabei jedoch nicht. Ihr Bruder erinnere sie dann immer: Boah Ronja, das ist nur ein Film!“

Sitzvolleyballerin Ronja Schmölder jubelt mit einer Mitspielerin Categories: Story Schlagwörter: , , , , , , | Comments
Fristen