Talenttransfer im Bobsport

Transfer eines Kraftprotz‘

Groß, kräftig und schnell – so beschreibt sich Leichtathletin Cynthia. Trainer sehen in ihr eine zukünftige Olympiasiegerin. Allerdings im Eiskanal. Cynthia ist ein Transfertalent der Sportstiftung NRW.

19.06.2020 | Nora Bannenberg
Cynthia Kwofie mit Bobfahrerhelm

Du bist doch ein Mädchen, warum hast du so viele Muskeln? Sprüche wie diese waren in der Schule keine Seltenheit für Cynthia Kwofie. Mit ihren langen Beinen, muskulösen Armen und breiten Schultern fällt die 19-jährige Kölnerin auf. Früher machten sie solche Kommentare traurig: „Ich habe immer lange Sachen angezogen, so dass man meine Arme nicht sehen konnte. Bei meinem ersten Leichtathletikwettkampf habe ich mich geschämt.“ 

Dass sie ihre Veranlagung heute als größte Stärke begreift, hat sie dem Sport zu verdanken. Hier ist sie nicht die Einzige, die muskulös ist, nicht die Einzige mit Sixpack. Cynthia lernt, es gibt keinen Grund sich zu verstecken. Aus Scham wird Stolz. Schüchternheit verwandelt sich in Selbstbewusstsein. 

Cynthia gilt in der Leichtathletik lange Zeit als großes Talent. Sie startet im Siebenkampf und findet ihre Paradedisziplin schließlich beim 200-Meter-Sprint. Bei ihren ersten Deutschen Meisterschaften bei den Aktiven ist die damals 17-jährige die jüngste Teilnehmerin im Feld. Mit 24,16 Sekunden über 200 Meter läuft sie eine persönliche Bestzeit und ist Viertschnellste. Eine Woche später verbessert sie ihre Leistung auf 24,01 Sekunden. Es sind Kraft und Explosivität, die ihr Schnelligkeit verleihen, und Ausdauer, die sie oft als Erste über die Ziellinie trägt. Ein Talentscout wird auf die Newcomerin aufmerksam. Er bescheinigt ihr herausragendes Potential, allerdings auf einem ganz anderen Spielfeld. 

Transfer mit Peking-Potenzial

Cynthia will zu den Olympischen Spielen. Nicht nach Tokio, nicht nach Paris. Sie will nach Peking. Dort finden 2022 die Winterspiele statt. Cynthia hat sich entschieden einen anderen Weg einzuschlagen: Sie will Bob-Anschieberin werden. Ihr Talent wird von einer Sportart in die andere transferiert, wo es noch besser zur Geltung kommt. Hinter diesem Projekt steht die Sportstiftung NRW. 

Der Tausch von Tartanbahn gegen Eiskanal hat System. Die Sportstiftung fördert die Umschulung von Talenten, die in anderen Sportarten noch bessere Perspektiven haben. Gute Turner werden so zum Beispiel zu sehr guten Wasser- oder Stabhochspringern. Schwimmer werden zu Wasserballern oder Fechter zu modernen Fünfkämpfern. Cynthia ist Teil des Nachwuchskaders und wird als eine von über 400 Athlet*innen gefördert. 

 

Veranlagt für die Achterbahn

Eine Anschieberin muss den Bob maximal beschleunigen. Cynthia hat dafür optimale Voraussetzungen, erklärt Landestrainer Andreas Neagu: „Früher suchte man möglichst kräftige, massige Anschieber. Inzwischen geht die Entwicklung zu filigraneren Sprintertypen. Cynthia ist beides.“ 

Kurz vor Weihnachten 2019 besucht Cynthia zum ersten Mal die Bobbahn in Winterberg. Es ist bitterkalt. Über olympischen Wintersport weiß sie so gut wie nichts. Im Fernsehen hatte sie einmal einen Sturz gesehen, der ihr Bild vom Bobfahren prägte: „Sowas würde ich niemals machen“, sagt sie. „Ich bin ein Schisser.“ Warum sie trotzdem eingestiegen ist? Cynthia zuckt mit den Achseln: „Ich bin eben auch neugierig und außerdem liebe ich Achterbahnfahren.“ Gemeinsam mit der jungen, aber erfahrenen Pilotin Laura Nolte (21) traut sie sich in den Eiskanal. NRWs aktuell beste Pilotin fuhr bei den Weltcuprennen 2020 viermal in die Medaillenplätze. Cynthias Jungfernfahrt beeindruckt auch sie. 

Zwei Frauen, ein Geschoss

Bevor es losgeht, werden die Spikes gesäubert, um den Halt auf der Eisbahn zu gewährleisten. Als Anschieberin steht Cynthia am Schlittenende. Die Pilotin vorne links gibt das Startsignal. Dann sprinten beide los. Jetzt zählen Kraft und Explosivität. Die Anschieberin wirft ihr ganzes Gewicht in die Waagschale. Sie stemmt sich vornüber, zieht den Bob mit einem impulsiven Ruck mit gestreckten Armen vorwärts und beschleunigt ihn schiebend, bis der Bob schneller ist als sie selbst. Die Pilotin springt bereits nach wenigen Metern in den Bob. Die Anschieberin sprintet auf der leicht abschüssigen Startebene durchschnittlich 40 Meter, bevor auch sie hineinspringt. 

Ein furchtbares Gefühl

Ab diesem Moment gibt Cynthia die Kontrolle ab. Zusammengekauert geht es kopfvoran talwärts. „Ich muss dann voll und ganz auf die Pilotin vertrauen.“ Für das Lenken und die sichere Ankunft im Ziel ist allein sie verantwortlich. Das Geschoss brettert mit einer Geschwindigkeit von bis zu 150 Stundenkilometer, je nach Bahn, bergab. „Das ist schon irgendwie ein furchtbares Gefühl“, gibt Cynthia zu. „Ich sehe gar nichts, ich spüre nur die Kurven. Aber in der Achterbahn wären meine Augen auch immer zu“, relativiert sie. Das könne man schon vergleichen. Ein wenig zumindest. Naja, nicht so richtig. Immerhin säße man in der Achterbahn aufrecht. Das geht im Bob nicht. „Ich habe versucht während der Fahrt rauszugucken – unmöglich“, erzählt Cynthia. Bei bis zu 5G (die fünffache Erdbeschleunigung) multipliziert sich das Gewicht einer 80 Kilogramm schweren Person auf 400 Kilo. Da fällt das Heben des Kopfes dann doch etwas schwer. Trotzdem: Nach der ersten Fahrt ist die Begeisterung geweckt. Die Geschwindigkeit, die Startrituale, das Auf-sich-besinnen, bevor es in die Bahn geht. „Ich wusste direkt, ich mach das. Ich werde Anschieberin.“

Synchron explosiv 

Der Start ist für den Rennverlauf von entscheidender Bedeutung. Obwohl jedes Team die Details über die Bauweise und den Lenkmechanismus strikt geheim hält, sind sich die Bobs, die international unterwegs sind, inzwischen sehr ähnlich. Es ist dadurch beinahe unmöglich, größere Abstände aufzubauen oder aufzuholen. Wer aber gut am Start ist, hat die Chance, einige Hundertstel-, vielleicht sogar Zehntelsekunden Vorsprung herauszuholen – ein gewaltiger Vorteil. 

Beim Weltcup der Frauen in Winterberg 2020 lagen die besten neun Teams nach zwei Durchgängen weniger als eine Sekunde auseinander. Den ersten und dritten Platz trennten lediglich 0,13 Sekunden. Die meisten Wettkämpfe werden durch Zeitunterschiede in genau solchen Größenordnungen entschieden. Üblicherweise stehen die Piloten im Rampenlicht. Doch ohne leistungsstarke Anschieber läuft nichts. Keiner kann ohne den anderen. Sie müssen gemeinsam schnell sein und vom Start weg absolut synchron funktionieren. 

Ansprüche und Abstriche

Im September finden in der Regel die Leistungstests statt. Dabei schieben die Athleten einen Dummy auf Schienen an, mit genauen Zeitmessungen und Analysen. Die Ergebnisse sind entscheidend für die Einteilung des Bundestrainers in die Teams für die anschließende Wintersaison: typischerweise die besten Pilot*innen mit den schnellsten Anschieber*innen. Ein Frauen-Zweier darf maximal 330 Kilo wiegen. Davon müssen mindestens 170 Kilo auf den Bob entfallen. Bundestrainer René Spies achtet rigoros darauf, dass beide Athletinnen samt Kleidung nicht mehr als 160 Kilo auf die Waage bringen.

Cynthia wird Großes zugetraut. „Die Olympischen Spiele sind sehr nah, wenn man die Sache motiviert angeht“, betont Bobtrainer Neagu. Er ist sich sicher: „Wenn Cynthia 70 bis 80 Prozent ihres Potenzials abrufen kann, dann fährt sie ihre erste Bobsaison.“ 

Dafür muss die Leichtathletik allmählich Abstriche machen. Für Cynthia wird es zum Beispiel keine Hallensaison geben. Die Bob-Weltcupsaison startet regulär Anfang Dezember und endet im März. „Wir werden mehr Kraftanteile in ihr Training integrieren“, plant Sprinttrainer Sven Timmermann, der die Sportlerin aktuell beim ART Düsseldorf betreut. Er will sie auf den ersten Metern noch schneller machen. International zu starten, das ist Cynthias erstes Ziel. Sie liebt das Reisen zu Wettkämpfen. Am liebsten wäre sie künftig mit einer Pilotin unterwegs, die Erfahrung hat. „Ich möchte ja auch etwas erreichen“, lächelt sie. 

„Cynthia muss konsequent bleiben – beim Training, bei der Ernährung. Mit halber Kraft funktioniert das nicht“, sagt Tobias Rüttgers, leitender Landestrainer des Leichtathletik-Verbandes Nordrhein.

„Cynthia ist ein Kraftprotz. Ihr Anspruch kann nur sein, die Beste in Deutschland zu werden.“
Tobias Rüttgers, leitender Landestrainer des Leichtathletik-Verbandes

Update:

Cynthia Kwofie (*11.05.2001) aus Köln wurde bei den Deutschen Jugendmeisterschaften 2019 Zweite über 200 Meter. Für ihre Karriere im Bob hat sie sich dem BSC Winterberg angeschlossen.

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